Kinder im "Armenhaus Europas"
Von der sozialen Notlage in der Republik Moldau und der abtrünnigen Region Transnistrien sind im hohen Maße die Kinder betroffen. Das bestätigten Darstellungen der leitenden Vertreter des moldauischen Sozial- und Familienministeriums gegenüber Österreichs Caritas-Präsidenten Franz Küberl. Gegen die Perspektivenlosigkeit der Kinder kämpft ein von der Caritas unterstütztes Ausbildungszentrum für Mädchen in Chisinau. "Kathpress" war mit dabei.
Die wohl erschütterndste Aussage kam von der Chefin der Direktion für Familien und Kinderrechte, Viorica Dumbraveanu vom Sozialministerium der Republik Moldau: "Eines unserer größten Probleme sind die häufigen Selbstmorde bei Kindern im Alter von neun, zehn Jahren. Wir müssen hier eine stark steigende Tendenz feststellen", so die Direktorin.
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Konkrete Zahlen und Statistiken konnte das Ministerium zwar keine vorweisen, dafür Interpretationen gesellschaftlicher Ursachen: "Aufgrund der hohen Zahl der Emigranten, die auf der Suche nach einer für die Existenzsicherung ausreichenden Erwerbsarbeit das Land verlassen, bleiben viele Kinder alleine zurück und erhalten keine elterliche Fürsorge", so Dumbraveanu. Die zurückbleibenden Kinder würden bei Großeltern oder anderen Verwandten, die nicht nur materiell, sondern aufgrund des Alters in der Erziehungsarbeit überfordert sind, aufwachsen, oder sie werden überhaupt zu Sozialwaisen. Soziale und psychologische Unterstützung für diese Kinder fehlt.
Die vom Ministerium angegebene Gegenstrategien - die Schaffung von Arbeitsplätzen, Investitionen in die Wirtschaft - bedienen mehr die Wunsch-, als die Wirklichkeitsdimension. Eine Milliarde US-Dollar dick ist der Geldfluss, der von den im Ausland arbeitenden Moldawiern in ihre ursprüngliche Heimat geschickt wird, das Bruttoinlandsprodukt betrug laut Weltbank im Jahr 2011 sieben Milliarden US-Dollar. "Die Rumänisch sprechenden Bürger gehen eher in Ländern mit romanischen Sprachen, vor allem nach Italien und Portugal, jene, die russisch sprechen, suchen in Russland Arbeit", erklärte der österreichische Sozialattaché Georg Reibmayr.
Zerbrochenes Sozialgefüge
"Einerseits leben viele der zu Hause Gebliebenen von den Geldern der Emigrierten. Andererseits ist diese starke Migration negativ für das soziale Gefüge und die Entwicklung der Republik Moldau, die seit der Unabhängigkeit 1991 mit zunehmenden gesellschaftspolitischen Spannungen konfrontiert ist", so Reibmayr, der versucht, das Sozialwesen in Chisinau und in der ganzen Republik durch einen Wissenstransfer aus Österreich zu verbessern und die vor Ort tätigen Organisationen besser zu vernetzen.
Dass die Kinder die oft am meisten Leidtragenden sind, unterstrich auch der Generalvikar von Chisinau, Benone Farcas: "Ich sehe nicht, dass das Problem in naher Zukunft gelöst werden könnte. Kinder haben schlicht keine Perspektive in diesem Land, in ihrer Armut erhalten sie keine ausreichende soziale Unterstützung und die Erfahrung von Liebe und Geborgenheit wird ihnen auch nicht zuteil". Angesichts dieser Verhältnisse könnten viele Menschen die Republik Moldau nicht als Heimat, als Zuhause empfinden.
Dass sich die Caritas von dieser Tristesse nicht unterkriegen lässt, wird im sozialen Ausbildungszentrum für Mädchen in Chisinau deutlich. In Ciocana, dem ärmsten Bezirk der moldauischen Hauptstadt, unterstützt die Wiener Caritas ein Projekt zur Förderung von Mädchen aus benachteiligten Familien. Dort werden Kurse zur Vermittlung berufsspezifischer wie lebenspraktischer Kompetenzen angeboten, die von 168 Mädchen im Alter zwischen 12 und 16 Jahren mit viel Engagement und Dankbarkeit angenommen werden. Sie lernen Grundkenntnisse in Informatik, Handarbeiten, Schneiderei und Kochen, werden über Gewaltprävention, Frauen- und Grundrechte aufgeklärt. Sie lernen, wie sie sich am Arbeitsmarkt bewerben können und sogar Chinesisch wird geboten.
Mädchen lernen Menschenrechte
Im Menschenrechts-Kurs arbeiten die Mädchen gerade innerhalb von Kleingruppen Ursachen und Lösungsmöglichkeiten für die Auswanderungswelle heraus, präsentieren ihre Resultate und diskutieren über grundlegende Menschenrechte, als Caritas-Präsident Küberl in die Klasse kommt. Im Kreis stehend werfen sich die Mädchen ein Wollknäuel zu, jede von ihnen sagt ein für sie besonders wichtiges Grundrecht, hält den Faden und wirft das Knäuel weiter.
So entsteht das schöne Bild von der untrennbaren Verwobenheit unveräußerlicher Freiheitsräume für den Menschen. "Großartig, was diese Kinder in dieser modernen Form des Unterrichts leisten", so die spontane Reaktion von Österreichs Caritas-Präsidenten. "Das Recht zu leben", das "Recht zu lernen" oder das "Recht zu spielen" wurden mehrmals genannt. Für moldauische Kinder offenbar keine Selbstverständlichkeit, was in einer österreichischen Mittelschule wohl kaum in dieser Brisanz hervorgehoben würde.
"Diese Klassenarbeit der engagierten Mädchen ist klarer, präziser und aussagekräftiger als jeder Weltbank-Bericht zur nationalen Lage. Diese Kinder haben, wie alle Menschen, das unveräußerliche Recht, ihr Leben selbstbestimmt entfalten zu können. Zugleich ist es erschütternd, dass selbst Grundlegendstes wie das Recht zu leben für die vielen armen Menschen in der Republik Moldau der Verwirklichung harrt", so ein betroffener Franz Küberl.
Quelle: Kathpress