"Sie tanzten um das goldene Kalb Hitler"
Im Nationalsozialismus hat die Kirche nicht nur die Juden verloren, sie hat "auch ihre eigenen Leute dadurch verloren, dass Millionen Katholiken einem Götzen gehuldigt und um das goldene Kalb Adolf Hitler getanzt haben": Das sagte der Kommunikationswissenschafter Maximilian Gottschlich gegenüber "Kathpress" zur Rolle der Kirche in der NS-Zeit und zur Frage nach der christlichen Schuld und Mitverantwortung am Zivilisationsbruch der Shoah. "Die neuesten Ergebnisse der US-amerikanischen Forschung weisen die ungeheure Zahl von 42.500 Konzentrations-, Zwangs- und Arbeitslagern der Nazis nach. Schon alleine an dieser Zahl konnte niemand vorbeikommen", so Gottschlich. Die Bereitschaft, darüber hinwegzusehen, sei ein bis heute bleibender Makel.
Die Kirche habe sich mit dem Einmarsch der deutschen Truppen im März 1938 weniger aus theologischen, sondern vielmehr aus machtpolitischen Gründen und Überlegungen mit Hitler zu arrangieren versucht. "Man wollte der drohenden Gefahr des Kommunismus entgehen und so den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Man hat Hitler nicht nur unterschätzt, sondern schlicht nicht erkennen wollen, dass die NS-Ideologie absolut kirchen- und religionsfeindlich war", erklärte der an der Uni Wien lehrende Professor. Die Kirche habe nicht wahrhaben wollen, dass die Christen selbst das nächste Opfer nach den Juden gewesen wären. "Aus der Lektüre von 'Mein Kampf' hätten man diesen Schluss ziehen müssen", so Gottschlich, dessen Forschungsschwerpunkte von Fragen des jüdisch-christlichen Verhältnisses bestimmt und geleitet sind.
Seiner Einschätzung zufolge wäre auch ein breit aufgestellter, nicht nur im Kleinen operierender Widerstand keineswegs aussichtslos gewesen, so der Wiener Kommunikationswissenschafter. "Die Kirche hätte mit ihrer Jahrtausende langen Erfahrung, auch im Umgang mit Macht und Machtstrukturen, erkennen müssen, dass die militärischen Erfolge in sich zusammenbrechen, wenn die 'Heimatfront' nicht fest vergattert hinter der eigenen Ideologie ist. Die einzige Antwort auf den Hitlerismus wäre gewesen, sich hinter den eigenen 'Führer', nämlich Jesus Christus, zu scharen", gibt Gottschlich gegenüber "Kathpress" zu bedenken.
Bedenklich sei insbesonders die Gefolgschaft der Massen für einen in den irrationalsten Tönen, gleichsam pseudoreligiös inszenierten Führerkult gewesen. "Diese blindwütige Unterwerfungsbereitschaft unter das Totalitäre gemäß dem Diktum 'Führer befiehl, wir folgen dir', war zugleich eine Absage an eine religiöse Lebensorientierung."
Es sei somit ein doppelter Vernichtungsschlag gewesen, zu dem die Nationalsozialisten ansetzten, "einerseits gegen die Juden, andererseits aber auch gegen das Christentum selbst, denn an den Götzen Adolf Hitler gingen auch die Christen verloren", erläuterte der Kommunikationswissenschafter. Man müsse sich dem Erschreckenden stellen, wie "schnell die offenbar dünne Schicht des christlichen Glaubens umgepolt werden konnte. Übrig blieben Menschen, die mit der gleichen Kraft, mit der sie den Gottesdienst besucht haben, plötzlich zu Parteiveranstaltungen gingen und einem Götzen huldigten."
Ungeheuerliche Versuchung Indifferenz
Die Massenvernichtung der Juden im Nationalsozialismus sei nicht nur mit dem systematischen, bürokratisch organisierten und industriell-technisch durchgeführten Mordapparat des Regimes, sondern auch im Zusammenhang mit der Indifferenz der Bevölkerung zu sehen. "Diese Indifferenz, dieses Wegsehen steht im kontradiktorischen Widerspruch zur Bergpredigt, zur Herzmitte der Lehre Jesu. Jesus hat gerade nicht weggesehen, er hat sich involvieren und affizieren lassen von den Sorgen der Menschen, von ihrem Elend und ihrer Not. Wer wegsieht, wird blind für das Wesentliche und für die Sorge um den Anderen. Die Indifferenz ist eine ungeheuerliche Versuchung", sagte Gottschlich.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sei die Auseinandersetzung mit dem je eigenen Versagen weitestgehend ausgeblieben. Doch genau vor dem Hintergrund eines solchen Ausbleibens "führt der materielle Wiederaufbau in die Irre. Niemand hat sich um die Frage nach der verletzten Kollektivseele gekümmert".
Grund zur Sorge erkennt Gottschlich in Umfrageergebnissen des Linzer Market-Instituts. "Wenn 42 Prozent der Österreicher, also fast jeder Zweite, sagen würde, Hitler habe auch etwas Gutes gehabt und gebracht, dann ist das doch Ausdruck einer katastrophalen Fehlorientierung der Menschen. Der Hitlerismus ist unabdingbar verknüpft mit Antisemitismus." Mit Aufklärung könne der aus irrationalem Hass genährte Stachel des Antisemitismus nicht gezogen werden. "Die Brücke zum Judentum, die nur über das Innewerden der eigenen Schuld führt, muss aus den Herzen der Christen selbst erwachsen", so Gottschlich im Interview mit "Kathpress".
Quelle: Kathpress