Menschenwürde und Humanität historisch umkämpft
Mit Reflexionen zu den historischen Kampfplätzen, auf denen um Humanität und Menschenwürde gleichermaßen gerungen wurde und gerungen wird, ging die heurige "Salzburger Hochschulwoche" am in ihre Zielgerade. Am Sonntag, 2. August, wird die traditionsreiche Veranstaltungsreihe, die heuer unter dem Motto "Prekäre Humanität" steht, mit einem Festgottesdienst mit Erzbischof Lackner und einem akademischen Festakt an der Universität Salzburg enden. Zuvor skizzierten der Freiburger Historiker Jörn Leonhard und der Erlangener Religionswissenschaftler Andreas Nehring am Freitag, wie es zu den dramatischen Entgrenzungen von Gewalt und Inhumanität in den Kriegen im 20. Jahrhundert kommen konnte und wie zugleich Religion selbst heute noch ein Faktor im Ringen um Menschenwürde sein kann.
Wer verstehen möchte, was historisch betrachtet den "prekären Charakter der Humanität" ausmacht, der muss laut Leonhard die Verbindungen von Gewalt und Humanität analysieren, die es in der Geschichte seit der Französischen Revolution 1792 immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen und aus unterschiedlichen Motiven gegeben habe. So zeige der Blick in die Geschichte, dass "die Berufung auf Humanität und Werte eine entscheidende Rolle für die Rechtfertigung von Gewalt" gespielt habe und zugleich auch eine Mitschuld an der "Totalisierung der Gewalt" im 20. Jahrhundert trage.
Bei den Begründungsmechanismen für Krieg und Gewalt habe es durch die Geschichte hindurch markante Verschiebungen gegeben, so der Historiker. Gerade in den Bürger- und Religionskriegen der frühen Neuzeit in Folge der Reformation sei es zu einer "universalistischen Aufladung" von Kriegsgründen gekommen, ging es dabei doch nicht mehr allein um "Dynastien und Territorien", sondern um eine "emotionale Identifizierung der Bürger mit der als moralisch besser erachteten Sache". Diese Emotionalisierung habe den "Grundstein gelegt für die Steigerung aller kriegerischen Mittel" bis in die Gegenwart.
Kriegerischer Export der Revolution
Die Französische Revolution stelle bei der Frage von Humanität bzw. Inhumanität und Krieg insofern einen wichtigen historischen Markstein dar, so Leonhard, als es in ihrer Folge zu einer Instrumentalisierung des Krieges im Sinne und Interesse der revolutionären Ideen kam. Anders gesagt: Krieg wurde nicht mehr im Interesse territorialer Gewinne und Machtmaximierung betrieben, sondern aus dem Ideal einer Ausbreitung der revolutionären Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verstanden. Grundlage dieser Kehrtwende war laut Leonhard ein neuer, emphatisch aufgeladener Begriff von Nation, der zum "Gehäuse universeller Menschen- und Bürgerrechte" wurde. In Folge der Revolution wurde daher "Krieg zum Allheilmittel erklärt, den man im Interesse der Revolution führte".
Die Mobilisierung der anderen Nationen lief in Folge nach einem genau gegenläufigen Konzept, so Leonhard: So rekurrierte man etwa in Preußen auf eine Identität von Nation und Staat, von Regierung und Volk, um so eine Massenmobilisierung zu begründen. Auch dabei kam es zu Übersteigungen und einer hohen Aufladung der Begriffe, etwa der Nation, die als eine "sich selbst befreiende Menschheit" identifiziert wurde.
In der Abwehr der napoleonischen Kriegstreiberei kam es somit zu einer Entgrenzung der Kriege hin zu "Volkskriegen" mit einer neuen Dimension von Gewalt und Inhumanität. Dabei griff man nicht selten auch auf "Gott, Gesetz, Freiheit, Sittlichkeit" und andere Güter zurück, die "um jeden Preis" zu verteidigen seien, führte Leonhard aus. Zugleich sei in dieser Enthemmung auch die Grundlage gelegt, auf der schließlich die Carl Schmitt'sche Freund-Feind-Unterscheidung im 20. Jahrhundert basieren und die weitere faschistische Entgrenzung befeuern sollte.
Religion und Menschenwürde
Wie sehr Religion bis heute ein Faktor im Ringen um Menschenwürde darstellt, zeichnete indes der Erlangener Religionswissenschaftler Andreas Nehring nach. So verwies Nehring etwa auf Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes, in dem die Würde des Menschen als "unantastbar" statuiert wird. Dies habe durchaus eine "religiöse Konnotation", so Nehring, insofern Unantastbarkeit eine Unverfügbarkeit gegenüber dem Staat und somit einen transzendenten Begriff anzeige. Dieser habe seine Wurzeln durchaus in der jüdisch-christlichen Tradition und sei "von dort aus in politische Kultur importiert worden".
Entsprechend der quasi-religiösen Aufladung bleibe die inhaltliche Bestimmung des Begriffs der Menschenwürde im Grundgesetz vergleichsweise "vage". Schließlich setzt der Begriff ein Verständnis vom Menschen voraus, welches den Menschen als herausgehobene Größe versteht: "Menschenwürde geht davon aus, dass der Mensch mehr ist als er von sich weiß; dass er mehr ist, als die Wissenschaft über ihn sagen kann - er ist metaphysisch offen" .
Als Beispiel für eine aktuelle Arena im Ringen um Menschenwürde verwies Nehring auf Indien und die dortige Religionspolitik. So versucht die indische Regierung seit 2002, mit restriktiven Gesetzen eine Konversion vom Hinduismus in andere Religionen zu unterbinden. Durch eine starke Identifizierung von Nation und Hinduismus werde jede Ausübung der Religionsfreiheit im Sinne etwa einer Konversion als Akt auch des Aufstandes gegen die indische Nation gewertet und verfolgt. Religion werde hier nicht in ihren positiven Eigenschaften zur Entfaltung des persönlichen, individuellen Lebens gesehen, sondern als Bedrohung der kulturellen Identität. So werde Bekehrung zu einem "Kampfbegriff", über den Fragen religiöser und nationaler Identitäten verhandelt würden.
Die Folge der Anti-Konversions-Gesetze aus dem Jahr 2002 waren scharfe Proteste nicht nur von christlichen Kirchen und Muslimen und Buddhisten, sondern ebenso von den Kastenlosen ("Dalit"), den Nachfahren der indischen Ureinwohner. Es kam zu Massenbekehrungen, die zugleich als Zeichen politischen Protestes und Zeichen des Ringens um Religionsfreiheit und damit um Menschenwürde verstanden wurden, so Nehring. Durch religiöse Konversion wurde außerdem die "Brüchigkeit von Identitätsprozessen" und die Verquickung von nationaler und religiöser Identität aufgezeigt und kritisiert, so der Wissenschaftler.
Aus europäischer Sicht lasse sich aus diesem Beispiel lernen, dass das westliche Verständnis von Bekehrung als eine freie, autonome Entscheidung des Individuums, nicht so selbstverständlich ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Vielmehr liege Sprengkraft in der Religionsfreiheit, die selbst moderne Staaten zu fürchten scheinen, wie das Beispiel Indiens zeige. Und die Verquickung der Frage der Menschenwürde mit Fragen der kulturellen Identität stelle zugleich eine Herausforderung für den Begründungsdiskurs der Menschenwürde selbst dar: Ist Menschenwürde tatsächlich jene universale und kulturübergreifende Kategorie, wie sie aus europäischer Perspektive erscheinen mag?