Sorge über zunehmenden Antisemistismus
Die Beziehungen zwischen Kirche und jüdischen Gemeinden in Österreich entwickeln sich gut, freilich dürfe man aber mit dem bisher Erreichten nie zufrieden sein: Das betonte der Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Prof. Martin Jäggle, im "Kathpress"-Interview. Mit der Konzilserklärung "Nostra Aetate" (1965) habe zwar ein unwiderruflich positive Zuwendung der Kirche zum Judentum begonnen, Jäggle sieht aber u.a. in der christlichen Theologie nach wie vor enormen Aufholbedarf, um diese Wende auch theologisch einzuholen. Zugleich zeigte er sich besorgt über den wieder zunehmenden Antisemitismus in der heimischen Gesellschaft. Jäggle äußerte sich im "Kathpress"-Interview anlässlich des "Tages des Judentums", den die Kirchen am 17. Jänner begehen.
Der zunehmende Antisemitismus gehe Hand in Hand mit der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit, warnte der Präsident des Koordinierungsausschusses: "Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit sind wie Geschwister. Sie sind verschieden und zugleich verwandt." Wer von gesellschaftlichen Anerkennungsdefiziten betroffen ist, neige zu Gruppenfeindlichkeiten. Dabei sei das kulturelle Grundmuster des Antisemitismus nach wie vor sehr leicht aktivierbar, so Jäggle. Das habe sich etwa bei der Beschneidungsdebatte in Deutschland vor rund drei Jahren deutlich gezeigt. "Und plötzlich waren die alten antisemitischen Grundmuster wieder da."
Er könne auch die Ängste der jüdischen Gemeinde in Österreich verstehen, dass Flüchtlinge aus muslimischen Ländern antisemitische Einstellungen mitbringen würden die nun im Zusammenspiel mit dem hiesigen Antisemitismus noch verstärkt werden könnten. Diese Gefahr sei evident.
Ein dunkles Kapitel ist für den Präsidenten des Koordinierungsausschusses der Zustand vieler jüdischer Friedhöfe im Land. Dass so viele immer noch nicht saniert sind, sei eigentlich "unerträglich". Für viele Orte wäre es eine Chance, den eigenen geschichtlichen Horizont zu erweitern, "dass eben auch jüdische Bürger Teil ihrer Geschichte sind". Jäggle sah es auch als wesentliche geistliche Aufgabe der lokalen christlichen Gemeinden, "für jene im Gebet vor dem einen Gott einzutreten, die alle Angehörigen verloren haben und für die niemand mehr beten kann".
Zugleich brauche es natürlich auch den positiven Kontakt mit dem lebendigen Judentum. Jäggle plädierte in diesen Zusammenhang u.a. für Partnerschaften zwischen katholischen und Jüdischen Schulen in Österreich wie auch in Israel.
"Tag des Judentums"
Zum "Tag des Judentums" meinte Jäggle, dass die Einführung dieses Tages in Österreich ganz wesentlich der vor wenigen Tagen verstorbenen Ökumene-Pionierin Oberin Christine Gleixner zu verdanken sei: "Ohne Gleixner gäbe es diesen Tag in Österreich nicht." Große Verdienste habe sich diesbezüglich aber auch der 2011 verstorbene orthodoxe Metropolit Michael Staikos erworben. Der "Tag des Judentums" sei in immer mehr Pfarren bereits gut etabliert, resümierte Jäggle.
Wenn dieser Tag zuallererst auch eine innerkirchliche Besinnung auf die jüdischen Wurzeln des Christentums darstellt, sei er inzwischen aber auch zu einem Impuls für die Begegnung zwischen Christen und Juden geworden; angefangen vom traditionellen Besuch der Spitzenvertreter des "Ökumenischen Rates der Kirchen" in der Kultusgemeinde in Wien.
Auf Papst Franziskus angesprochen meinte Jäggle, dass die Beziehungen zum Judentum dem Papst ein großes Anliegen seien. Er verwies auf die persönlichen Freundschaften des Papstes mit Rabbiner noch aus dessen Zeit in Argentinien und wie Papst Benedikt habe auch Franziskus sich unmittelbar nach seiner Wahl an die jüdische Gemeinde in Rom gewandt. Der Papst mache immer wieder darauf aufmerksam, "wie viel das Christentum dem Judentum verdankt und wie viel davon noch nicht benannt ist".
Kein "Nostra Aetate 2.0" in Sicht
Jäggle nahm im "Kathpress"-Interview auch zum jüngsten vatikanischen Dokument "Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung" Stellung: Das Dokument fordert eine Intensivierung des Dialogs und insbesondere der Zusammenarbeit von Juden und Christen. Das Christentum habe jüdische Wurzeln; Jesus sei nur im jüdischen Kontext seiner Zeit zu verstehen. Beide Religionen seien unwiderruflich aufeinander angewiesen; das Gespräch zwischen ihnen sei in theologischer Hinsicht "nicht Kür, sondern Pflicht". Daher sollten Christen und Juden sich nicht nur besser kennenlernen. Gemeinsam müssten sie für Gerechtigkeit, Frieden, die Bewahrung der Schöpfung eintreten und jede Form von Antisemitismus bekämpfen.
Positiv an dem Dokument sei laut Jäggle, "dass es die Entwicklung der vergangenen 50 Jahre sichert und Antisemitismus klar als Sünde benennt". Das Dokument biete aber keine weiterführenden Perspektiven. "Es bricht nicht zu neuen Ufern auf, es ist kein Nostra Aetate 2.0". An der diesbezüglichen Schwäche des Dokuments werde freilich auch die generelle Schwäche der Theologie deutlich.
Die Fortführung des Konzilsdokuments "Nostra Aetate" (1965) sei immer noch eine "theologische Nische" und habe weite Bereiche der Theologie noch nicht erfasst. Die grundlegende Umkehr des Christentums in seiner Beziehung zum Judentum habe auch Konsequenzen für die Theologie, erläuterte Jäggle: "Die kann nicht so weitermachen, als ob es diese Umkehr nicht gegeben hat. Was bedeutet es beispielsweise für die Fundamentaltheologie, dass Jesus ein Jude war?"
Der Präsident des Koordinierungsausschusses erläuterte seine Kritik an der Theologie mit einem weiteren Beispiel: Die immer noch vorhandene Polarität im theologischen und kirchlichen Denken zwischen Gesetz und Evangelium müsse endlich überwunden werden. Diese Polarität habe keinen Sitz im Leben Jesu und beinhalte in sich schon eine antijüdische Dynamik. Es müsse künftig vielmehr darum gehen, "Gesetz und Evangelium zusammen zu denken".
Auch die immer noch vorhandene kirchliche Pharisäer-Polemik müsse endlich beendet werden, forderte der Theologe. Wenn man die Evangelien oberflächlich liest, könne man meinen, die Pharisäer seien die besonderen Gegner Jesu gewesen, was historisch aber so nicht zutreffen. Keiner Gruppe des damaligen Judentums habe Jesus so nahe gestanden wie der pharisäischen Bewegung. Wer also weiterhin diesen Gegensatz zwischen Jesus und den Pharisäern transportiert, transportiere damit auch ein antisemitisches Potenzial, warnte Jäggle. Dem Alten Testament als "Erstem Testament" müsse in der Liturgie noch viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, etwa auch in den Predigten, so der Theologe weiter. Er ortete hier "besonders großen Nachholbedarf".
Im aktuellen vatikanischen Dokument zum Judentum wird u.a. auch die theologische Problematik aufgeworfen, dass Kirche und Judentum "nicht als zwei parallele Heilswege" dargestellt werden können. Aus dem christlichen Bekenntnis, dass es nur einen Heilsweg geben kann, folge in keiner Weise, dass die Juden von Gottes Heil ausgeschlossen wären, weil sie nicht an Jesus Christus als den Messias Israels und den Sohn Gottes glauben. Vielmehr hätten sie "Anteil an Gottes Heil". Wie dies jedoch "ohne explizites Christusbekenntnis möglich sein kann, ist und bleibt ein abgrundtiefes Geheimnis Gottes". - Jäggle räumte diesbezüglich ein, dass mitunter auch die Theologie an Grenzen stoße. Nicht alles sei klärbar, "aber die Aufgabe der Theologie besteht auch darin, Geheimnisse verständlich zu machen".