Papst wird Mexiko provozieren
Papst Franziskus könnte in zwei Wochen in Mexiko einen "konstruktiven Streit auslösen und das Land aus der Gleichgültigkeit wecken": Mit derartigen Provokationen rechnet der aus Vorarlberg stammende Politologe Andreas Schedler, der in Mexiko-Stadt am Studienzentrum für Wirtschaftsforschung (CIDE) unterrichtet, im Interview mit "Kathpress". Schedler widmet sich in seinen Forschungen der Auswirkungen der Drogengewalt auf die mexikanische Gesellschaft - mit teils ernüchternden Resultaten.
Unglaubliche 100.000 Tote hat der mexikanische Drogenkrieg seit dem Jahr 2000 gefordert, zudem weitere 25.000 Verschwundene - "bereits dass man bei diesen Zahlen mit großer Leichtfertigkeit 'plus minus 10.000' angibt, spricht für sich", bemerkte Schedler. Längst seien Dimensionen eines Bürgerkrieges überschritten. "Und niemand würde unter anderen Vorzeichen - etwa in einer Diktatur - derartige Umstände ohne Gerichtsverfahren oder gehörige Untersuchungen akzeptieren."
In Mexiko läuft dies jedoch anders: "Eine große Verdrängung ist hier im Gange und die Menschen haben sich schnell an das gewöhnt, was zuvor als undenkbar und fürchterlich galt", so der Experte. Der Duktus von Präsident Felipe Calderon (2006-2012) sei zum Allgemeingut geworden, wonach 90 Prozent der Opfer ohnehin selbst "Delinquentes" (Kriminelle) seien. Psychologisch bringe dies eine Erleichterung und eine Betrachtung des Gewaltgeschehens weit weg vom eigenen Leben. "Die Leute sprechen selbst mit Freunden kaum darüber und wähnen sich in Sicherheit."
Der weitaus bedenklichere Effekt ist, dass damit gemeinhin auch die Gewalt- und Entführungsopfer zur verschwommenen Kategorie der Kriminellen gezählt werden. Schedlers Forschungen zufolge falle es den Menschen schwer, sich mit ihnen zu solidarisieren, selbst Opferverbände gelten als verdächtig. Der Fall der 43 Studenten, die im Herbst 2014 in Ayotzinapa entführt wurden, führte zwar zu zivilgesellschaftlicher Mobilisierung, durchbrach dieses Muster aber nur wenig: "Anders als auf internationaler Ebene verlief sich das Thema in Mexiko nach Monaten. Die Kommilitonen und Familien, die protestierten, versucht man als Revoluzzer darzustellen und zu kriminalisieren."
Die Opferverbände hätten kaum Kontakte zur politischen Gesellschaft, die auf Gewaltexzesse nur mit "verwaschenen Reformpaketen" reagiere, was der Politologe auch auf Hilflosigkeit angesichts fehlender Alternativen zurückführte. Bezeichnenderweise sei die Drogengewalt in keinem Präsidentenwahlkampf Thema gewesen. Vielmehr bemühe sich die Politik auf allen Ebenen, Darstellungen der Gewalt im Ausland als Panikmache abzutun und die Friedfertigkeit oder die Schönheit der Landschaft zu betonen, um Investoren und Touristen nicht zu verschrecken.
Angesichts dieser Ausgangslage werde der Papst mit seinem Besuch an neuralgischen Orten wie Chiapas, Morelia und Ciudad Juarez "Irritationen streuen" und damit Bewegung in eine verfahrene Situation bringen, so Schedlers Überzeugung. "Wichtig wäre für Mexiko eine Selbstreflexion, dass jeder für sich überlegt, was die eigene Rolle in dem von Gewalt bestimmten Umfeld ist. Wacht die Gesellschaft aus ihrer Behäbigkeit und Selbstgefälligkeit auf, so wäre viel gewonnen."
Aufgreifen und fortführen könnte diese Diskussion besonders die katholische Kirche, die im Drogenkrieg allerdings bisher keine akzentuierte Rolle eingenommen habe. Glaubt man den Erzählungen, spendieren die "Narcos" immer wieder auch Kirchenrenovierungen und -feste, gleichzeitig wurden jedoch 35 mexikanische Priester allein seit 2006 ermordet. Jedenfalls sind es laut Schedler nur eine Handvoll Geistlicher und Ordensschwestern, die aufgrund von direkter Kritik an Versäumnissen der Politik und auch an den Kartellen weithin bekannt sind, so Schedlers Beurteilung; die Kirche beschränke sich bislang eher darauf, den Opfern "Trost und private Psychotherapie" zu geben.
Quelle: kathpress