Acht Quadratmeter für Natascha
Rund 760.000 Menschen leben in Saporischja, einer Stadt am Fluss Dnepr im Zentrum der Ukraine. Tausende Flüchtlinge aus dem besetzten und umkämpften Osten haben sich hierher geflüchtet. Caritaspräsident Michael Landau besucht ein Containerdorf am Rand der Stadt. Knapp 300 Menschen leben hier, die Hälfte davon Kinder. Am Rand der Container liegt ein kleiner Fußballplatz für die Kinder, dazu kommen noch ein paar alte Spielgeräte.
In einem der Container trifft Landau die 65-jährige Pensionistin Natascha an. Sie stammt aus einer kleinen Stadt im Bezirk Donezk. Im Juli 2014 seien auch bei ihr zu Hause die Kämpfe ausgebrochen, erzählt sie. Im Jänner 2015 sei sie schließlich nach Saporischja geflohen. Von der Caritas habe sie hier diese Unterkunft, Lebensmittel und Medikamente für ihre chronische Gefäßerkrankung erhalten, erzählt die Frau. Sie muss sich nun aber den kleinen Container mit nicht einmal acht Quadratmetern mit einer weiteren Frau und deren Kind teilen. Für jeweils drei Container gibt es eine kleine Sanitäreinheit, dazu kommen noch einigen Küchen und Aufenthaltsräume für die 300 Flüchtlinge.
Dabei wohnte Natascha früher in einer kleinen aber feinen Wohnung im fünften und damit obersten Stockwerk eines kleinen Plattenbaus. Rund um ihren Wohnblock wurde aber immer heftiger gekämpft, erzählt sie. Das Dach wurde zerstört, die Fenster und Türen gingen kaputt. An ein Bleiben sei nicht mehr zu denken gewesen. Dazu kommt, dass den Pensionisten in den von Separatisten besetzten Gebieten keine ukrainischen Pensionen mehr ausbezahlt werden. Deshalb sei sie geflohen. Hier in Saporischja bekommt sie ihre Pension und auch Hilfe von der Caritas. Die beengte Wohnsituation sei freilich nur schwer auszuhalten, klagt die alte Frau.
Natascha erzählt, dass ihre Tochter im besetzten Gebiet zurückgeblieben ist, weil sie dort Arbeit hat. Sie stehe aber regelmäßig mit ihr in Kontakt und habe sie auch kürzlich besucht. Dazu musste sie zahlreiche Kontrollpunkte der ukrainischen Armee und der Separatisten passieren. Die besetzten Gebiete seien jetzt Russland, erzählt sie. Dort gebe es nun auch die russische Währung Rubel.
Caritaspräsident Landau fragt sie, wie sie sich die Zukunft vorstellt und ob sie nicht wieder zurück in ihre Heimat will. - Sie könne nicht sagen, was die Zukunft bringt, antwortet die Frau, und sie wisse nicht, ob die besetzten Gebiete jemals wieder zur Ukraine gehören werden. Sie wolle aber auf jeden Fall wieder eine geeinte Ukraine.
Seit dem Frühjahr 2014 tobt in der Ostukraine eine blutige Auseinandersetzung. Separatisten gründeten in Teilen der östlichen Bezirke Lugansk und Donezk mit tatkräftiger Unterstützung Russlands zwei "Volksrepubliken". Es folgten dramatische Kämpfe mit der ukrainischen Armee mit bisher mehr als 9.000 Toten. Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sind bereits 1,7 Millionen Menschen aus den umkämpften Gebieten in andere Landesteile geflohen, mehr als 1,1 Millionen Menschen flohen ins Ausland, der Großteil nach Russland. Insgesamt sind über 5 Millionen Menschen von den Wirren des Krieges betroffen, darunter mehr als 1,7 Millionen Kinder.
Anna auf der Flucht
Eine Kilometer weiter im Stadtzentrum von Saporischja tritt der österreichische Caritaspräsident auf Anna. Am Schicksal von Anna und ihrer Familie wird einmal mehr deutlich, dass niemand nur aus Jux und Tollerei seine Heimat verlässt und als Flüchtling sein Glück sucht: Die Familie stammt aus Horlivka, einer kleinen Stadt im Bezirk Donezk, um die im Frühjahr 2014 heftig gekämpft wurde.
Am 13. Juni 2014 hatten sie so schnell sie konnten ihre Sachen gepackt und waren geflüchtet, erzählt die 32-jährige Frau dem österreichischen Caritaspräsidenten. Zuerst kamen sie in einer kleinen Stadt noch nahe der Heimat unter. Dort verbrachten sie in einem Notquartier den Sommer. Sie hofften auf ein baldiges Ende der Kämpfe um wieder zurückkehren zu können. Die im Kriegsgebiet zurückgebliebenen Eltern hätten sie aber davor gewarnt, berichtet Anna. Es sei viel zu gefährlich gewesen, vor allem für die Kinder, damals 9 und 1 Jahr alt.
Trotzdem seien sie zurückgegangen, fährt die junge Frau fort. Doch über ihre Wohnung im obersten Stock eines Hochhauses seien ständig die Kampfflugzeuge geflogen. Ununterbrochen wurde gekämpft. Nach zwei Tagen hätten sie deshalb ihre Sachen wieder gepackt und seien wieder zurück in ihr vorheriges Notquartier. Dann wurde aber das Geld knapp und in dem kleinen Ort habe es für ihren Mann keine Arbeit gegeben; nicht einmal als Hilfsarbeiter, obwohl er zwei Hochschulabschlüsse hat.
Deshalb seien sie in den Bus gestiegen und Richtung Dnepopetrovsk gefahren. Die Hitze im Bus sei aber unerträglich gewesen und bevor die Kinder kollabierten, seien sie in Saporischja einfach ausgestiegen und dann notgedrungen hier geblieben.
Über das Katastrophenministerium hätten sie zwei Mal Notunterkünfte bekommen, erzählt Anna. Ihr Mann habe schließlich einen Hilfsarbeiterjob gefunden und Mithilfe finanzieller Unterstützung durch die Caritas hätten sie schließlich eine kleine Wohnung anmieten können. Nun seien aber die Gaspreise so stark gestiegen, dass sie nicht wüssten, wie lange sie sich die Wohnung noch leisten könne, berichtet die junge Frau, während sie weint. Sie suche deshalb auch verzweifelt Arbeit.
Caritaspräsident Landau ist sichtlich betroffen: "Das Leid dieser Menschen darf uns nicht unberührt lassen." Die Ukraine sei zudem nicht irgendein fernes Land. "Wir vergessen es allzu oft, aber Kiew ist von Wien nicht weiter entfernt als Paris. Wenn wir von Wien aus die gleiche Entfernung wie nach Bregenz in die andere Richtung nach Osten fahren, sind wir schon in der Ukraine", so Landau: "Wir sind Nachbarn und sollten uns daher auch wie solche im besten Sinn des Wortes verhalten!"
Quelle: kathpress