Die vergessenen Kinder und Alten von Hnutovo
Fast romantisch verträumt liegt das kleine ostukrainische Dorf Hnutovo in einem Tal, von sanften Hängen flankiert. Doch die Idylle trügt. Das Dorf liegt im sogenannte ATO-Sperrgebiet, einem 30 Kilometer breiter Streifen entlang der 500 Kilometer langen Front. Auf den westlichen Hängen stand noch vor einiger Zeit die ukrainische Armee, auf der östlichen Seite waren prorussische Separatisten positioniert. Beide Seiten lieferten sich heftige Gefechte. Mitten drinnen im Artilleriehagel lag das kleine Dorf mit einigen hundert Zivilisten, die nicht rechtzeitig fliehen konnten oder wollten.
Die 75-jährige Maria beginnt auch mehr als ein Jahr danach noch zu zittern, wenn sie dem österreichischen Caritaspräsidenten Michael Landau von den damaligen Ereignissen erzählt. Taghell sei es in der Nacht gewesen, überall waren Raketen eingeschlagen. Die allein lebende Frau musste die Nächte im Keller verbringen. Und dann sei eine Bombe im Gemüsegarten eingeschlagen. Durch die Druckwelle wurden die Fenster zerstört und die Bausubstanz ihres Hauses beschädigt. Starke Risse verlaufen durch die Wände.
Die ukrainische Armee konnte bald darauf einige Kilometer Gelände gewinnen. Die neue Front verläuft nun rund zwei Kilometer östlich von Hnutovo und das Dorf befindet sich damit im von der Regierung kontrollierten Gebiet. Doch obwohl eigentlich ein Waffenstillstand vereinbart ist, wird immer noch täglich geschossen. Auch bei seinem Besuch in Hnutovo hört Michael Landau das Donnergrollen der Geschütze.
Seit dem Frühjahr 2014 tobt in der Ostukraine eine blutige Auseinandersetzung. Separatisten gründeten in Teilen der östlichen Bezirke Lugansk und Donezk mit tatkräftiger Unterstützung Russlands zwei "Volksrepubliken". Er folgten dramatische Kämpfe mit der ukrainischen Armee mit bisher mehr als 9.000 Toten. Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sind bereits 1,7 Millionen Menschen aus den umkämpften Gebieten in andere Landesteile geflohen, mehr als 1,1 Millionen Menschen flohen ins Ausland, der Großteil nach Russland. Insgesamt sind mehr als 5 Millionen Menschen von den Wirren des Krieges betroffen, darunter mehr als 1,7 Millionen Kinder.
Nur die Erinnerung bleibt
Marias Mann ist seit zehn Jahren tot, die Kinder leben längst woanders, doch die alte Frau will nicht weg, will auch niemandem zur Last fallen. So bleiben ihr nur einige vergilbt Erinnerungsfotos von einer einst glücklichen Familie in Hnutovo
Sie hat Tränen in den Augen, als sie sich bei der Caritas dafür bedankt, dass die ihr neue Fenster gekauft und eingebaut hat, sonst hätte sie den eiskalten Winter nicht überstanden. 1.200 Hrywnja (40 Euro) Pension bekomme sie, erzählt die alte dem dem Gast aus Österreich. Aber das reiche nicht für Essen, Medikamente und Heizmaterial. Ohne die Hilfe der Caritas könnte sie nicht überleben. Diese hilft mit einer Lieferung Holz zum Heizen, Nahrungsmittelpaketen und Apothekengutscheinen für Medikamente.
Der örtliche Caritasdirektor Rostyslav Sprinyuk und seine Mitarbeiter sind mit einem ganzen LKW voll Holz nach Hnutovo gekommen, um die ärmsten Bewohner zu unterstützten. Und das sind in dem kleinen Dorf so gut wie alle. Denn wer Geld hat, ist längst weg und vor dem Krieg geflohen. Zurück blieben die Alten, die Kranken und auch die Behinderten.
Auch Marias Nachbarin Raissa zählt zu jenen, die nicht weg konnten und es auch nicht wollten. "Wohin hätte ich den gehen soll?", fragt die 58-jährige. Auch Raissa bekommt von der Caritas Holz zum Heizen. "Jeder hier will nur mehr Frieden. Keiner versteht, warum der Krieg nicht endlich zu Ende gehen kann", klagt sie Landau ihr Leid. Das sei hier kein Leben mehr. Sie wolle endlich wieder ohne Angst auf die Straße gehen. Die wenigen verbliebenen Kinder dürften nicht einmal draußen spielen, zu groß sei die Gefahr von Minen.
Zivilisten in Schützengräben
Die Caritas-Mariopul hat ein eigenes Hilfsprogramm gestartet, um die Menschen im umkämpften Frontgebiet durch den Winter zu bringen, wie Caritasdirektor Sprinyuk erklärt. Die Caritas versuche aber nicht nur, die schlimmste Not der Menschen zu lindern, sondern ihnen darüber hinaus auch ein wenig Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu machen. So betreibt die Caritas gemeinsam mit einem Partner in Mariupol eine kleine Fabrik für Holzbriketts. 10 Personen haben in dem Werk Arbeit gefunden. Darunter auch einige Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten. Durch die Arbeit würden die Flüchtlinge einen Teil ihrer Würde zurückgewinnen und könnten wieder für sich selbst sorgen, erklärt der Caritasdirektor.
Die Küstenstadt Mariopul am Asowschen Meer liegt hart an der derzeitigen Front. Die Stadt hatte vor dem Krieg weit über eine Million Einwohner, heute sind es vielleicht noch 600.000. Dazu gehören aber auch rund 80.000 Flüchtlinge die sich aus dem Osten in die von der ukrainischen Regierung kontrollierten Stadt flüchteten.
Mariopul war von den Separatisten im Frühjahr 2014 zwei Monate besetzt, bevor es von der ukrainischen Armee zurückerobert werden konnte. Einige ausgebombte Häuser zeugen noch heute von teils heftigen Kämpfen in der Stadt. Nach wie vor herrscht keine völlige Sicherheit. Vor rund einem Jahr schlugen mehrere von den Seperatisten abgefeuerte Raketen auf einem belebten Marktplatz in Mariupol ein. 31 Menschen, darunter viele Kinder, starben, hunderte wurden verletzt. Die Angst vor einer neuen Eskalation der Gewalt ist ständig präsent.
Seit einigen Wochen haben die Kämpfe zwischen Armee und Separatisten wieder zugenommen, berichtet Mariya Podybailo dem österreichischen Caritaspräsidenten Michael Landau. Von ihrem Beruf her ist Podybailo Historikerin an der Universität Mariupol, doch seit zwei Jahren steht sie an der Spitze einer Freiwilligenorgansation. "Als der Krieg begann, war die ukrainische Armee in einem fürchterlichen Zustand", erzählt sie. "So haben wir für die Soldaten Ausrüstungsgegenstände wie Uniformen oder Nachtsichtgeräte besorgt." Die freiwilligen Helfer hätten sogar selbst Schützengräben für die Soldaten bei Mariupol ausgehoben. Podybailo: "Wir haben auch die verwundeten Soldaten mit unseren Privat-PKWs in Spitäler gebracht und für die Spitäler medizinisches Material besorgt. Auch um die Flüchtlinge aus dem Osten haben wir uns gekümmert."
Die Angst vor einer neuen Eskalation der Gewalt ist ständig präsent. "Die Separatisten bringen Panzer und schweres Gerät in die Nähe der Front", berichtet die Aktivistin. Ein klarer Verstoß gegen das Minsker Abkommen. Täglich werde geschossen und täglich sterben Menschen, sagt Podybailo: "Allein in den vergangenen 24 Stunden wurden drei ukrainische Soldaten getötet und vier schwer verwundet."
Caritaspräsident Landau zeigt sich betroffen vom Elend der Menschen vor Ort. "Wir dürfen diese Menschen nicht im Stich lassen", sagt er. Die Politiker in Österreich würden ihre ganze Energie in die Errichtung von Grenzzäunen stecken. Wenn sie zugleich von verstärkter Hilfe vor Ort sprechen, seien das hingegen nicht mehr als Sonntagsreden und Lippenbekenntnisse, kritisiert Landau: "Es würde unseren Politikern sicher gut tun, hierher an die Front zu fahren und persönlich mit diesen Menschen in Not und Angst zu sprechen."
Quelle: kathpress