Eltern zunehmend "Steigbügelhalter ihrer Kinder"
Vor einer "kinderfeindlichen Gesellschaft" und vor verloren gegangener Erziehungskompetenz warnt die Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger: "Eltern haben längst verlernt, wirkliche Bedürfnisse von Wünschen zu unterscheiden", erklärte die Expertin am Mittwoch bei einer Linzer Pressekonferenz der "TelefonSeelsorge OÖ" zum Weltelterntag am 1. Juni. Statt ihre Führungsverantwortung in liebevoll beständiger und konsequenter Weise nachzukommen, mutierten viele Erwachsene unter dem Druck des Gesellschaftsideals "lieber gleich zu Steigbügelhaltern ihrer Kinder und 'besten Freunden'", so die Therapeutin, Gynäkologin und Autorin.
Immer mehr Kinder würden heute "übergewichtig oder essgestört, hyperaktiv, vielgestaltig verhaltensoriginell, leistungsverweigernd und stattdessen chillbewusst oder gar durchgehend tyrannisch" auftreten, diagnostizierte Leibovici-Mühlberger. Schuld an der Misere seien aber nicht etwa die Heranwachsenden selber, sondern eine "kindfeindliche" Gesellschaft, "die schon an ihren Kindern verdienen will und ein kindgerechtes Aufwachsen zunehmend verunmöglicht, obgleich sie vorgibt alles dafür zu tun".
Einen nachteiligen Beitrag leiste laut der Expertin auch ein neues Erziehungsideal, das unter den Schlagwörtern "große Freiheit" und "individuelle Potenzialentfaltung" keine wirkliche Führung mehr biete. Wer Grenzen setzten möchte, gerate fälschlicherweise rasch unter den Verdacht autoritär zu sein. Kinder als "das größte Kapital eines Landes" bräuchten aber einen sicheren Rahmen, der gleichzeitig genügend Raum zur freien Entwicklung lässe, um das Potenzial entfalten zu können, so die Medizinerin. Hier sei die gesamte Gesellschaft gefordert.
Wie wichtig eine konsequente Erziehung sei, mache sich spätestens mit Eintritt in die Arbeitswelt bemerkbar. Leibovici-Mühlberger: "Der Aufschlag in einer beinharten Steigerungs- und Leistungsgesellschaft mit enormem Konkurrenzdruck und Arbeitsplatzunsicherheit offenbart, dass diese Kinder bei weitem nicht ausreichend auf die auf sie wartenden Anforderungen vorbereitet sind." Sorgen bereite auch, dass es noch nie so viele Kinder und Jugendliche mit Vorstufenbefunden für spätere schwere chronische Systemerkrankungen wie Diabetes mellitus, koronare Herzerkrankung oder Ischämischen Schlaganfall gegeben habe.
Kinderfreundlicher wäre die Gesellschaft laut der Expertin, würden viele Sektoren unter dem "Blickwinkel des Kindes" neu beurteilt. Der Schutz des Kindes, seiner Intimsphäre und seiner ungestörten psychosozialen Entfaltung müssten dabei wieder aufgewertet werden, so der Standpunkt Leibovici-Mühlbergers. In der Erziehung gelte es statt allein der kognitiven Intelligenz vermehrt auch Kompetenzen wie Selbstorganisation, unmittelbare Bedürfnisverschiebung, Ablenkbarkeit, Aufmerksamkeit, Impulskontrolle zu betonen, sowie oder "Sekundärtugenden" wie Pünktlichkeit, Höflichkeit, Fleiß oder Einsatzbereitschaft.
Weltelterntag am 1. Juni
Den Weltelterntag am 1. Juni hatte die Telefonseelsorge der Diözese Linz zum Anlass genommen, um auf die Bedürfnisse und Anliegen von Eltern aufmerksam zu machen. Mit dem "ElternTelefon" gibt es in Oberösterreich eine eigene Anlaufstelle bei der Telefonseelsorge speziell für Eltern. Das "ElternTelefon" ist unter der Nummer 142 das ganze Jahr über rund um die Uhr erreichbar, kostenlos und vertraulich. Aus der Erfahrung weißt Leiterin Silvia Breitwieser, "dass alleine ein Gespräch schon sehr viel weiterhilft". Bei Bedarf geben die Mitarbeiter Adressen von Hilfs- und Beratungseinrichtungen weiter.
Die Pressekonferenz am Mittwoch in Linz stand unter dem Titel "Kinder sind keine App - Warum sie auch im Jahr 2016 Beziehung brauchen". Erziehung verlange Auseinandersetzung, Authentizität, Interesse, klare Haltungen und Präsenz", so Breitwieser. Anlässlich des Weltelterntags ermutigt die Organisation dazu, "erstens das zu tun, was für sie und ihre Kinder gut ist, zweitens sich auf das Abenteuer Kind einzulassen und einen guten gemeinsamen Erziehungsweg zu finden und sich drittens in schwierigen Zeiten Hilfe zu holen".
Quelle: kathpress