Was ist "gute Politik"?
Was ist "gute Politik"? Eine Politik, die den Bürgern das Blaue vom Himmel verspricht? Die mit Steuerbegünstigungen winkt oder ein Ende des Flüchtlingszuzugs in Aussicht stellt? Eine Politik der Experten und Finanzversteher? Oder vielleicht doch eher eine Politik, die es versteht, den Sinn für das Gemeinwohl nicht nur in der Bevölkerung wach zu halten, sondern die sich selbst am Ohr der Menschen weiß, die Demokratie nicht nur als Regierungsform, sondern als "Lebensform" begreift?
Der Hannoveraner Theologe, Politik-Philosoph und Leiter des diözesanen "Forschungsinstituts für Philosophie" (fiph), Jürgen Manemann, macht keinen Hehl aus seiner Präferenz. Und was er in neun Thesen zur Frage "Wie geht gute Politik" in seinem Blog "Philosophie indebate" entfaltet, darf nicht nur als Kommentar zur anstehenden deutschen Bundestagswahl im September verstanden werden, sondern kann auch eins zu eins auf die desolate Situation der Politik, ja, des Politischen überhaupt in Österreich umgelegt werden.
Politik dürfe sich heute nicht mehr damit begnügen, "Gerechtigkeit als Fairness" zu verstehen und nach bloßer Chancengleichheit bzw. -gerechtigkeit zu streben. Schließlich basiere Politik auf Voraussetzungen, "die sie zwar selbst nicht schaffen kann, die sie aber fördern muss" - und so dürfe auch politisch die "Frage nach dem guten Leben" nicht länger "privatisiert" werden, sondern zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen werden, fordert Manemann.
Gute Politik versteht sich als Beitrag, Räume zu schaffen, in denen Menschen ein gutes Leben leben können, das heißt, Sinn erfahren und dem Leben Sinn geben können. Ein sinnerfülltes Leben ist ein Leben, in dem man sich aktiv mit Aufgaben beschäftigt, die auch für andere Menschen von Bedeutung sind. Dadurch erfahren wir Anerkennung. Wer Anerkennung erfährt, dem wird eine Ahnung zuteil, was ein sinnerfülltes Leben ist.
Politik sei daher dann "gut", wenn sie ein Bewusstsein davon ausbilde, "dass wir zum politischen Handeln bestimmte Grundfähigkeiten benötigen", so seine erste These. Solche Grundfähigkeiten seien etwa die Fähigkeit, "mit anderen und für andere zu leben, andere Menschen zu verstehen und Anteil an ihrem Leben zu nehmen", zitierte der Theologe die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum. "Fehlen diese Fähigkeiten, ist Politik gefährdet" - schließlich sei ein gewisses Maß an Emotionalität notwendige Voraussetzung, sich von anderen als dem je Eigenen in Beschlag nehmen zu lassen. "Gute Politik" sei daher jene, die "Gefühle erzeugt, die Menschen dazu motivieren, die Gesellschaft gerechter gestalten zu wollen".
"Wer Pluralität aufhebt, löst Politik auf"
Sozialromantik? Ein verklärter Blick auf die realpolitischen Zustände, hochgradigen gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen und Verflechtungen? Nein, beharrt Manemann - eher ein Versuch, Politik gerade aus dem Klein-Klein der Realpolitik herauszuholen, in dem sie zu versinken droht und dem Bürgerinnen und Bürger zunehmend verständnislos und ablehnend gegenüberstehen. Schließlich sei der Mensch laut der bekannten Definition von Aristoteles ein "Zoon politikon", ein politisches Lebewesen. Diese politische Dimension müsse dem Menschen zurückgegeben werden.
Insofern - so Manemanns zweite These - sei "Kultur der neue Name für Politik". Schließlich bedeute Leben "mehr als bloß zu überleben". Ein "sinnerfülltes Leben" jedoch setze Gemeinschaft und Anerkennung ebenso voraus wie Selbstvertrauen, Selbstachtung und ein Selbstwertgefühl. Dies alles sei nicht durch Realpolitik herstellbar, sondern wurzele in einer "Kultur des Zusammenlebens".
Wo Menschen indes zusammenleben, geht es alles andere als homogen zu. Insofern - so Manemanns dritte These - besitze "gute Politik" auch ein Verständnis davon, "dass Politik in der Verschiedenheit wurzelt". Politik entstehe schließlich in den Ritzen der Heterotopie, immer dort, wo Menschen einander in ihrem Anders-Sein begegnen. "Ohne dieses Zwischen und ohne die Verschiedenheit der Menschen untereinander gäbe es also gar keine Politik." Anders und zugleich gegen jede Form eines auf Uniformität zielenden politischen Populismus gesagt: "Wer Pluralität aufhebt, löst Politik auf."
Ausdruck dieser Heterotopie ist - auch dies gegen jede rechte Verlockung einer sich abdichtenden, bewahrenden Gesellschaft gerichtet - das zivilgesellschaftliche Streiten und Ringen um Politik, mithin das Ringen um Veränderung: "Protest und Widerstand sind Motoren von Politik" - und nicht, wie seitens der Realpolitik gern behauptet, deren Bremse. Wo Politik das nicht beachtet und über zivilgesellschaftliche Protestformen die Nase rümpft, verkomme sie "entweder zur bloßen Herrschaft oder zum bloßen Geschäft oder nur noch zur Verwaltung". Während daher "die Ethik der Machtpolitik die Ordnung" darstelle, sei daher "die Ethik der Bürgerpolitik die Veränderung", so Manemanns vierte These.
Zu wissen, was ungerecht ist, setzt Leid-Empfindlichkeit voraus, die Fähigkeit, sich vom Leid des Anderen verwunden zu lassen, mitzufühlen und mitzuleiden. Politik basiert auf dieser Verwundbarkeit: Jedem Menschen kann Leid zugefügt werden und ein jeder wird vom Leid Anderer betroffen.
"Demokratiepassion" und Gemeinwohl
Manemann verfolgt also ein Verständnis von Politik, welches zutiefst ein demokratisches Ethos kennzeichnet. Tatsächlich sei die Demokratie "die beste Regierungsform" - aber eben mehr als das: "Sie ist eine Lebensform" und sei daher, so These fünf, durch "gute Politik" zu fördern: "Demokratie beinhaltet eine Demokratiepassion im doppelten Sinn: eine Leidenschaft für die Demokratie, aber auch ein Leiden an der Demokratie. Demokratie ist durch ein permanentes Überschreiten eigener Horizonte charakterisiert."
Einig weiß sich der Leiter des "fiph" in seinen Thesen zur Politik schließlich auch mit einem Kernanliegen der Katholischen Soziallehre - nämlich dem Beharren auf dem Gemeinwohl. "Gute Politik zielt auf das Gemeinwohl", hält Manemann in seiner sechsten These fest. Politik dürfe nämlich nicht auf Interessen- oder Klientelpolitik verkürzt werden - was ein Zerrbild von Politik bedeuten würde -, sondern sie habe stets "mit dem Ganzen" zu tun und sei an alle Bürgerinnen und Bürger adressiert. Das wache Sensorium "guter Politik" gelte dabei jedoch nicht allen Bürgern gleich, sondern richte sich auf jene Nächsten, die auf Solidarität angewiesen sind, sprich: "Der Blick auf das Gemeinwohl, auf das Wohl aller, verlangt deshalb, insbesondere die Interessen von Minderheiten zur berücksichtigen sowie derjenigen, die überhaupt keine Lobby haben."
Daher könne gelten - so These sieben -, dass das Fundament "guter Politik" ein "lebendiger Sinn für Ungerechtigkeit" sei und somit "Leid-Empfindlichkeit Bedingung aller Politik" darstelle: "Das Politische zu kennen, heißt wissen, was ungerecht ist. Zu wissen, was ungerecht ist, setzt Leid-Empfindlichkeit voraus, die Fähigkeit, sich vom Leid des Anderen verwunden zu lassen, mitzufühlen und mitzuleiden. Politik basiert auf dieser Verwundbarkeit".
"Raum für Möglichkeitssinn"
Schließlich verweist Manemann am Ende in seinen beiden letzten Thesen auf gleichsam realpolitische Schritte, diesem hohen Anspruch des Verständnisses guter Politik zu entsprechen: so konstatiert er, dass gute Politik "das Gegenteil von Rechthaberei" sei - und verteidigt den Wert des politischen Kompromisses. Dieser nämlich sei nicht etwa die "zweitbeste Lösung" von politischen Konflikten, sondern stelle einen hohen Anspruch an die politischen Gegner: "Der Kompromiss ist die schmerzhafte Anerkennung des Standpunktes des Anderen. Er neutralisiert Feindschaft und geht mit dem Verzicht auf eigene Ansprüche einher."
Der Hinkefuß: "Eine Politik des Kompromisses benötigt allerdings demütige Politiker", die bereit seien, "Raum zu geben für Andere und Anderes" - und die somit bereit sind, nicht nur nach dem Machbaren zu schielen, sondern nach dem Möglichen. "Gute Politik schafft Raum für Möglichkeitssinn" lautet entsprechend Manemanns neunte These.
Quelle: Kathpress