50 Jahre Pro Oriente
Als das Ökumenismus-Dekret "Unitatis redintegratio" des Zweiten Vatikanischen Konzils die Türen zu den anderen christlichen Konfessionen weit öffnete, ergriff der Wiener Erzbischof Kardinal Franz König die Gunst der Stunde. Schon kurz vor der Verabschiedung des Dekrets rief er am 4. November 1964 in Wien die Stiftung "Pro Oriente" ins Leben.
Vordringliches Anliegen Kardinal Königs war es damals, das historische Erbe Wiens zu nützen und trotz des Eisernen Vorhangs auf inoffizieller Ebene Verbindungen zu den orthodoxen Kirchen zu schaffen. In der Folge bereiste König als erster "westlicher" Kardinal die meisten Länder des ehemaligen Ostblocks, wie z.B. Rumänien (1967) und Jugoslawien (1974).
Stets machte König dabei die Solidarität mit den dort ansässigen Kirchen, mit Bischöfen, Priestern und Gläubigen deutlich. Das brachte ihm in jenen Ländern eine bis heute währende, ungebrochene Wertschätzung ein.
Der Auftragt für seine Stiftung ist heute so klar wie vor 50 Jahren: Pro Oriente sollte und soll auf inoffizieller Ebene den Dialog zwischen der katholischen Kirche und den orthodoxen bzw. orientalisch-orthodoxen Kirchen vertiefen, gleichsam im Vorfeld des hochoffiziellen und von kirchendiplomatischen Erwägungen belasteten Dialogs. Die geografische, historische und kulturelle Tradition Wiens und Österreichs erleichtert die Umsetzung dieses Auftrags in die Praxis.
Der Weg von Pro Oriente seit 1964 ist durch fünf Meilensteine gekennzeichnet: erstens der Dialog mit der Orthodoxen Kirche in den Koinonia-Kolloquien; zweitens die Gespräche mit den orientalisch-orthodoxen Kirchen, die bald in die Wiener Christologische Formel mündeten; drittens zahlreiche Friedensinitiativen nach der politischen Wende 1989; viertens eine Reihe von Historiker- und Theologenkommissionen, die historische und kirchliche Problemfelder zwischen den Kirchen aufarbeiteten; fünftens der Dialog mit den Kirchen syrischer Tradition.
Besondere Rolle von Metropolit Damaskinos
Der Dialog mit den Kirchen der byzantinischen Orthodoxie war in den ersten 25 Jahren des Bestehens von "Pro Oriente" durch die politische Situation belastet: Alle orthodoxen Kirchen in Europa - mit Ausnahme der Kirchen von Griechenland, von Zypern und von Finnland - befanden sich im kommunistischen Machtbereich. Dass es überhaupt zu Kontakten und Gesprächen kommen konnte, war nur möglich, weil "Pro Oriente" von Wien, der Hauptstadt des neutralen Österreich, aus agierte.
Als erster "Meilenstein" auf dem Weg des Dialogs sollte sich das "Erste Ekklesiologische Kolloquium - Koinonia" erweisen. Es war in Begegnungen mit dem Ökumenischen Patriarchen Athenagoras I. und seinem Nachfolger Demetrios I. sorgfältig vorbereitet worden.
Eine besondere Rolle spielte Metropolit Damaskinos Papandreou, der Leiter des Orthodoxen Zentrums in Chambesy. Bei der Eröffnung von "Koinonia" hob er den inoffiziellen Charakter der Begegnung hervor: Die Teilnehmer seien mit dem Segen ihrer Kirchenleitungen nach Wien gekommen, aber eben nicht als offizielle "Repräsentanten" ihrer Kirchen. Man wolle auf eine "freie, leidenschaftslose Weise" an der Ausräumung von Missverständnissen arbeiten, gemeinsam die Wahrheit prüfen und um die Erkenntnis ringen, dass die legitimen Verschiedenheiten Ausdrucksformen des einen Glaubens sind.
"Koinonia" schuf wichtige Voraussetzungen für den offiziellen Dialog zwischen katholischer und orthodoxer Kirche, der im Jahre 1980 auf Rhodos und Patmos begann. Es zeigte sich, dass in Wien auf inoffizieller Ebene manches "vorgedacht" werden kann, das dann auch Auswirkungen auf hochoffizieller Ebene hat.
Wiener Christologische Formel
Schon im Jahr 1971 nahm die Stiftung das inoffizielle Gespräch mit den fünf orientalisch-orthodoxen Kirchen (armenisch-apostolische Kirche, syrisch-orthodoxe Kirche, koptisch-orthodoxe Kirche, äthiopisch-orthodoxe Kirche, indisch-orthodoxe Kirche) auf. Diese Kirchen hatten sich nach dem Konzil von Chalcedon im Jahr 451 von der römischen Reichskirche getrennt. 1.500 Jahre lang hatte zwischen diesen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche Feindschaft und Skepsis geherrscht.
Bereits bei der ersten der fünf inoffiziellen Wiener Konsultationen kam es zu einem kirchenhistorischen Durchbruch. Der damals noch junge koptisch-orthodoxe Bischof Schenuda - der kurze Zeit später zum Papst-Patriarchen gewählt werden sollte - machte den Vorschlag, auf die überkommenen kontroverstheologischen Begriffe zu verzichten und lieber aufzuschreiben, wie der Glaube an Jesus Christus als "wahrer Gott und wahrer Mensch" in Liturgie und Gebet zum Ausdruck gebracht wird. Siehe da: Es zeigte sich weitgehende Übereinstimmung. Mit der sogenannten Wiener Christologischen Formel konnte ein 1.500 Jahre dauernder christologischer Streit beendet werden.
Der Dialog der Wiener Konsultationen wurde später durch ein ständiges Gremium weitergeführt, das sogenannte Standing Committee. Die Ergebnisse wurden in Regionalsymposien in Indien, Deutschland, Libanon etc. verbreitet.
Der 2004 zwischen Rom und den orientalisch-orthodoxen Kirchen begonnene offizielle Dialog benützt die Ergebnisse des inoffiziellen "Pro Oriente"-Dialogs mit dieser Kirchenfamilie als eine seiner wesentlichen wissenschaftlichen Grundlagen.
Unierte steigen aus den Katakomben
Die "Wende" von 1989 hatte zunächst auch viele ökumenische Hoffnungen geweckt. Der jahrzehntelange Druck des kommunistischen Staatsatheismus war dahin, die Kirchen konnten sich wieder frei entfalten. Aber sehr bald machte sich das Erbe der Geschichte kräftig bemerkbar.
In der Ukraine und in Rumänien stiegen die ("unierten") katholischen Ostkirchen aus den Katakomben, in denen sie in der Zeit des kommunistischen Totalitarismus heroisch überlebt hatten. Auf orthodoxer Seite wurde diese "Auferstehung" der "unierten" Kirchen überaus kritisch beobachtet.
Und in Jugoslawien, einem Land, in dem katholische und orthodoxe Kirche ungefähr gleich stark vertreten waren, machten sich dramatische Zerfallserscheinungen bemerkbar, die zum blutigen Bürgerkrieg und zur Auflösung des Staates führen sollten.
"Pro Oriente" reagierte mit einer Reihe von Friedensinitiativen. Beginnend mit dem Jahr 1991 wurde zu drei Irenischen (Versöhnungs-)Initiativen nach Wien eingeladen. Dabei regten die teilnehmenden katholischen und orthodoxen Bischöfe aus ehemals kommunistisch beherrschten Ländern die Aufarbeitung der gemeinsam erlebten, aber unterschiedlich wahrgenommenen Geschichte an.
"Pro Oriente" nahm die Anregung auf und errichtete 1994 eine Kommission für südosteuropäische Geschichte, die aus Historikern und Theologen aus Südost- und Westeuropa besteht. Ziel dieser Kommission ist es, durch historisch-kritische Analysen eine gemeinsame Sicht der Geschichte dieser Region zu erarbeiten, um damit die Versöhnung zwischen den verschiedenen Ethnien und Religionsgemeinschaften voranzubringen und dem Abbau von Vorurteilen zu dienen.
Handwörterbuch Theologische Anthropologie
Durch die Erfahrungen der intensiven Zusammenarbeit von orthodoxen und katholischen Theologen sowie Historikern war für die Verantwortlichen der Stiftung deutlich geworden, dass das Zusammendenken von Geschichte und Theologie ein wichtiger Beitrag auch für das ökumenische Gespräch sein kann. Daher startete die Stiftung drei weitere Projekte, die auch der Vertrauensbildung zwischen den durch die Konsequenzen der "Wende" entzweiten Kirchen dienen sollten:
Das erste Projekt waren zwei Forschungsvorhaben zur Brester Union und zur Siebenbürgener Union. Die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit von römisch-katholischen, griechisch-katholischen und orthodoxen Experten wurden und werden gemeinsam publiziert.
Das zweite Projekt waren die Patristischen Tagungen mit orthodoxen und katholischen Theologinnen und Theologen. Diese kamen aus mehr als 20 europäischen Ländern.
Schließlich, als drittes Projekt, wurde die Kooperation mit wissenschaftlichen Institutionen der russisch-orthodoxen Kirche zu aktuellen Fragen der christlichen Anthropologie beschlossen. Diese Kooperation mündete 2012 in die Publikation des vielbeachteten Handwörterbuchs Theologische Anthropologie, das gleichzeitig in deutscher und russischer Sprache erschien.
Auch syrische Kirchen in Asien einbezogen
Die Kirchen der syrischen Tradition hatten 1.500 Jahre weitgehend isoliert voneinander gelebt, als Pro Oriente sie im Jahr 1994 aus ihren Heimatländern (dem Nahen Osten und Indien) und ihrer Diaspora in Wien zusammenführte. Die Apostolische Kirche des Ostens (die Kirche des alten Perserreichs, die einst in weiten Teilen Asiens verbreitet war und das Evangelium bis nach Indien, China, Japan brachte) wurde erstmals in ein ökumenisches Gespräch mit der katholischen Kirche einbezogen. Diese Kirche hatte sich bereits im Jahr 431 nach dem Konzil von Ephesus von der römischen Reichskirche getrennt - freilich in erster Linie aus politischen Gründen, weil sie im Kampf der beiden damaligen Weltmächte Rom und Persien nicht als fünfte Kolonne der Römer gelten wollte.
Pro Oriente ist nach wie vor das einzige Forum, auf dem diese Kirchen einander - auf inoffizieller Ebene - begegnen. Das Langzeitprojekt gilt dem Studium und der Bewahrung des gemeinsamen theologischen, liturgischen und spirituellen Erbes. Die Ergebnisse der Konsultationen werden von "Pro Oriente" publiziert. Die wissenschaftliche Arbeit wird vom "Forum Syriacum" getragen, das in regelmäßiger Folge auch "Colloquia Syriaca" veranstaltet.
Die Stärken inoffizieller Arbeit
Einer der großen Vorteile der Arbeit von Pro Oriente ist der inoffizielle Charakter ihrer Initiativen, der Raum öffnet für das freie Gespräch jenseits offizieller kirchlicher Positionen. Dennoch dienen die Ergebnisse der Arbeit von Pro Oriente nicht selten als eine Grundlage für Dialoggespräche auf offizieller Ebene, wie z.B. anlässlich des Beginns des offiziellen Dialogs zwischen Rom und den altorientalischen Kirchen im Februar 2004.
Im Laufe der letzten Jahrzehnte weitete die Stiftung ihre Aktivitäten auf ganz Österreich aus. Drei Sektionen wurden gegründet: 1985 in Salzburg, 1988 in Graz und Linz.
Die Ergebnisse aller Forschungsprojekte hat die Stiftung schriftlich dokumentiert. In den 50 Jahren ihres Bestehens hat sie mehr als 100 wissenschaftliche Publikationen in diversen Sprachen herausgegeben: außer in Englisch und Deutsch u.a. auch auf Russisch, Arabisch, Griechisch und Malayalam.
Die bewusst nüchtern gehaltene Festschrift zum 50-Jahr-Jubiläum der Stiftung trägt den Titel "Denkwerkstatt Pro Oriente. Erfolgsgeschichte eines Ost-West-Dialogs". Eine "Denkwerkstatt" will "Pro Oriente" auch in Zukunft bleiben.
Marte erinnert an Wort von Patriarch Sako
Präsident Johann Marte formuliert in der Einleitung des Jubiläumsbands die Zukunftsperspektiven: Zu diesen gehört die vor wenigen Jahren begründete "Pro Oriente"-Kommission junger orthodoxer und katholischer Theologinnen und Theologen, die "kreative Unruhe" erzeugen, sich kritisch mit den bisherigen Ergebnissen des offiziellen orthodox-katholischen Dialogs auseinandersetzen und innovative Wege zu der von allen Kirchen ersehnten sichtbaren Einheit suchen will.
Pro Oriente hält sich auch nicht fern von den dramatischen aktuellen Entwicklungen. Marte: "In einer Zeit härtester und existenzieller Nöte der Christen, besonders im Nahen Osten, fühlt sich 'Pro Oriente' verpflichtet durch ein Wort des chaldäischen Patriarchen von Bagdad, Mar Louis Raphael I. Sako: 'Pro Oriente war und ist für uns ein Zeichen der Hoffnung für unser Erbe und für die Einheit mit unseren Schwesterkirchen'."