Papst Franziskus spricht vor EU-Parlament
Europa muss nach den Worten von Papst Franziskus die christlichen Wurzeln seiner Identität, "seine gute Seele", wiederentdecken. Die Religion sei für den Kontinent nicht nur das fundamentale Erbe einer 2.000-jährigen Vergangenheit, sondern biete auch die Grundlage für seine künftige soziale und kulturelle Entwicklung, sagte Franziskus am Dienstag in einer Rede vor dem Europaparlament in Straßburg. Der christliche Beitrag sei keine Bedrohung für säkulare Staaten, sondern eine Bereicherung und Stärkung der gesellschaftlichen Solidarität, so der Papst.
Zitate aus der Ansprache von Papst Franziskus |
(...) Um das Gut des Friedens zu gewinnen, muss man vor allem zum Frieden erziehen, indem man eine Kultur des Konfliktes fernhält, die auf die Angst vor dem anderen, auf die Ausgrenzung dessen, der anders denkt oder lebt, ausgerichtet ist. Freilich darf der Konflikt nicht ignoriert oder beschönigt werden; man muss sich ihm stellen. Wenn wir uns aber in ihn verstricken, verlieren wir die Perspektive, die Horizonte verengen sich, und die Wirklichkeit selbst zerbröckelt. Wenn wir in der Konfliktsituation verharren, verlieren wir den Sinn für die tiefe Einheit der Wirklichkeit, halten die Geschichte an und verfallen der inneren Zermürbung durch fruchtlose Widersprüche. Leider wird der Friede noch allzu oft verletzt. Er ist es in vielen Teilen der Welt, wo Konflikte verschiedener Art wüten. Er ist es auch hier in Europa, wo Spannungen nicht aufhören. Wie viel Schmerz und wie viele Tote gibt es noch in diesem Kontinent, der den Frieden herbeisehnt und doch leicht den Versuchungen von einst verfällt! Darum ist das Werk des Europarates auf der Suche nach einer politischen Lösung der gegenwärtigen Krisen wichtig und ermutigend. Der Friede wird jedoch auch durch andere Formen des Konflikts wie den religiösen und internationalen Terrorismus auf die Probe gestellt, der eine tiefe Verachtung für das menschliche Leben hegt und unterschiedslos unschuldige Opfer fordert. Dieses Phänomen wird leider durch einen sehr oft ungestörten Waffenhandel gefördert. Die Kirche betrachtet den Waffenhandel als "eine der schrecklichsten Wunden der Menschheit, er schädigt unerträglich die Armen". Der Friede wird auch verletzt durch den Menschenhandel, die neue Sklaverei unserer Zeit, welche die Menschen in Handelsware verwandelt und sie jeder Würde beraubt. Nicht selten stellen wir dann fest, dass diese Phänomene miteinander verbunden sind. Der Europarat spielt durch seine Komitees und die Expertengruppen eine wichtige und bedeutsame Rolle bei der Bekämpfung solcher Formen von Unmenschlichkeit. (...) An diesem Ort sehe ich mich daher in der Pflicht, an die Bedeutung des europäischen Beitrags und der europäischen Verantwortung für die kulturelle Entwicklung der Menschheit zu erinnern. (...) Um der Zukunft entgegenzugehen, bedarf es der Vergangenheit, braucht es tiefe Wurzeln und bedarf es auch des Mutes, sich nicht vor der Gegenwart und ihren Herausforderungen zu verstecken. Es braucht Gedächtnis, Mut und eine gesunde menschliche Zukunftsvision. (...) Um der Zukunft entgegenzugehen, bedarf es der Vergangenheit, braucht es tiefe Wurzeln und bedarf es auch des Mutes, sich nicht vor der Gegenwart und ihren Herausforderungen zu verstecken. Es braucht Gedächtnis, Mut und eine gesunde menschliche Zukunftsvision. Man muss sich zudem vor Augen halten, dass ohne diese Suche nach der Wahrheit jeder zum Maß seiner selbst und seines Handelns wird und so den Weg zur subjektivistischen Behauptung der Rechte bahnt. Auf diese Weise wird der Begriff der Menschenrechte, der von sich aus Allgemeingültigkeit besitzt, durch die Idee des individualistischen Rechts ersetzt. Das führt dazu, sich im Grunde für die anderen nicht zu interessieren und jene Globalisierung der Gleichgültigkeit zu fördern, die aus dem Egoismus entspringt und Frucht eines Menschenbildes ist, das unfähig ist, die Wahrheit aufzunehmen und eine authentische soziale Dimension zu leben. Ein solcher Individualismus macht menschlich arm und kulturell unfruchtbar (...). Und so haben wir heute das Bild eines verletzten Europas vor Augen, aufgrund der vielen Prüfungen der Vergangenheit, aber auch aufgrund der gegenwärtigen Krisen, die es anscheinend nicht mehr mit der früheren Lebenskraft und Energie zu bewältigen vermag. Ein etwas müdes und pessimistisches Europa, das sich durch die Neuheiten, die von den anderen Kontinenten kommen, belagert fühlt. Wir können Europa fragen: Wo ist deine Kraft? Wo ist jenes geistige Streben, das deine Geschichte belebt hat und durch das sie Bedeutung erlangte? Wo ist dein Geist wissbegieriger Unternehmungslust? Wo ist dein Durst nach Wahrheit, den du der Welt bisher mit Leidenschaft vermittelt hast? (...) Europa muss darüber nachdenken, ob sein gewaltiges Erbe auf menschlichem, künstlerischem, technischem, sozialem, politischem, wirtschaftlichem und religiösem Gebiet ein bloßes museales Vermächtnis der Vergangenheit ist, oder ob es noch imstande ist, die Kultur zu inspirieren und seine Schätze der gesamten Menschheit zu erschließen. (...) Die Geschichte Europas kann uns nahelegen, sie in naiver Weise als eine Bipolarität zu begreifen oder höchstens als eine Tripolarität (denken wir an die historische Konzeption: Rom - Byzanz - Moskau), und uns bei der Interpretation der Gegenwart und der Projektion auf die Utopie der Zukunft hin innerhalb dieses Schemas bewegen, das ein Ergebnis geopolitisch-hegemonischer Reduktionismen ist. Heute liegen die Dinge anders, und wir können zu Recht von einem multipolaren Europa sprechen. Die Spannungen - die aufbauenden wie die zersetzenden - treten zwischen vielfältigen kulturellen, religiösen und politischen Polen auf. Europa steht heute vor der Herausforderung, diese Multipolarität in einmaliger Weise zu "globalisieren". (...) In der aktuellen politischen Welt Europas erweist sich der Dialog, der nur innerhalb der je eigenen (politischen, religiösen, kulturellen) Organismen stattfindet, als unfruchtbar. Die Geschichte verlangt heute die Fähigkeit, aus den Strukturen, welche die eigene Identität einschließen, zur Begegnung hinauszugehen, mit dem Ziel, ebendiese Identität in der brüderlichen Gegenüberstellung der Transversalität zu stärken und fruchtbarer zu machen. Ein Europa, das nur innerhalb der geschlossenen Zugehörigkeitsgruppen dialogisiert, bleibt auf halbem Wege stehen. Es bedarf des jugendlichen Geistes, der die Herausforderung der Transversalität annimmt. (...) Solche Begegnungen scheinen bei der Suche nach einem eigenen Gesicht im aktuellen multikulturellen, multipolaren Umfeld besonders wichtig, um die europäische Identität, die sich in den Jahrhunderten herausgebildet hat, weise mit den Ansprüchen der anderen Völker zu verbinden, die sich nun auf dem Kontinent zeigen. In dieser Perspektive ist der Beitrag zu verstehen, den das Christentum heute zur kulturellen und gesellschaftlichen europäischen Entwicklung im Rahmen einer rechten Beziehung zwischen Religion und Gesellschaft leisten kann. Aus christlicher Sicht sind Vernunft und Glaube, Religion und Gesellschaft berufen, einander zu erhellen, indem sie sich gegenseitig unterstützen und, falls nötig, sich wechselseitig von den ideologischen Extremismen läutern, in die sie fallen können. Die gesamte europäische Gesellschaft kann aus einer neu belebten Verbindung zwischen den beiden Bereichen nur Nutzen ziehen, sei es, um einem religiösen Fundamentalismus entgegenzuwirken, der vor allem ein Feind Gottes ist; sei es, um einer "beschränkten" Vernunft abzuhelfen, die dem Menschen nicht zur Ehre gereicht. Sehr zahlreich und aktuell sind die Themen, in denen es meiner Überzeugung nach eine gegenseitige Bereicherung geben kann und in denen die katholische Kirche - besonders durch den Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) - mit dem Europarat zusammenarbeiten und einen grundlegenden Beitrag leisten kann. Im Licht des eben Gesagten ist da zunächst der Bereich einer ethischen Reflexion über die Menschenrechte, über die nachzudenken Ihre Organisation oft gefordert ist. Ich denke besonders an die Themen, die mit dem Schutz des menschlichen Lebens zusammenhängen - heikle Fragen, die einer aufmerksamen Prüfung unterzogen werden müssen, die die Wahrheit des ganzen Menschen berücksichtigt, ohne sich auf spezifische medizinische, wissenschaftliche oder juristische Bereiche zu beschränken. Ebenso zahlreich sind die Herausforderungen der modernen Welt, die untersucht werden müssen und eines gemeinsamen Einsatzes bedürfen, angefangen von der Aufnahme der Migranten. Sie brauchen zunächst das Lebensnotwendige; hauptsächlich aber haben sie es nötig, dass ihre Menschwürde anerkannt wird. Dann ist da das ganze schwere Problem der Arbeit, vor allem wegen des hohen Niveaus der Jugendarbeitslosigkeit, das es in vielen Ländern gibt - eine echte Hypothek für die Zukunft -, aber auch wegen der Frage nach der Würde der Arbeit. Ich habe den nachdrücklichen Wunsch, dass eine neue soziale und wirtschaftliche Zusammenarbeit entsteht, die frei ist von ideologischen Bedingtheiten und die der globalisierten Welt zu begegnen weiß, indem sie den Sinn für Solidarität und gegenseitige Liebe lebendig erhält, der dank des großherzigen Wirkens von Hunderten Männern und Frauen das Gesicht Europas so sehr geprägt hat. (...) Herr Generalsekretär, Frau Präsidentin, Exzellenzen, meine Damen und Herren, der selige Papst Paul VI. hat die Kirche definiert als "Expertin in allem, was den Menschen betrifft". In der Nachfolge Christi sucht sie in der Welt - trotz der Sünden ihrer Kinder - nichts anderes, als zu dienen und Zeugnis für die Wahrheit abzulegen. Nichts außer diesem Geist leitet uns in der Unterstützung des Weges der Menschheit. Mit dieser Grundeinstellung möchte der Heilige Stuhl seine Zusammenarbeit mit dem Europarat fortsetzen, der heute eine grundlegende Rolle bei der Formung des Denkens zukünftiger Generationen von Europäern spielt. Mein Wunsch ist, dass Europa mit der Wiederentdeckung seines historischen Erbes und der Tiefe seiner Wurzeln sowie mit der Annahme seiner lebendigen Multipolarität und des Phänomens der dialogisierenden Transversalität jene geistige Jugend wiederfindet, die es fruchtbar und bedeutend gemacht hat. |
Papst Franziskus mahnt im Europaparlament zu einer neuen europäischen Identität |
(...) Indem ich mich heute an Sie wende, möchte ich aufgrund meiner Berufung zum Hirten an alle europäischen Bürger eine Botschaft der Hoffnung und der Ermutigung richten. Eine Botschaft der Hoffnung, die auf der Zuversicht beruht, dass die Schwierigkeiten zu machtvollen Förderern der Einheit werden können, um alle Ängste zu überwinden, die Europa - gemeinsam mit der ganzen Welt - durchlebt. Eine Hoffnung auf den Herrn, der das Böse in Gutes und den Tod in Leben verwandelt.
Eine Ermutigung, zur festen Überzeugung der Gründungsväter der Europäischen Union zurückzukehren, die sich eine Zukunft wünschten, die auf der Fähigkeit basiert, gemeinsam zu arbeiten, um die Teilungen zu überwinden und den Frieden und die Gemeinschaft unter allen Völkern des Kontinentes zu fördern. Im Mittelpunkt dieses ehrgeizigen politischen Planes stand das Vertrauen auf den Menschen, und zwar weniger als Bürger und auch nicht als wirtschaftliches Subjekt, sondern auf den Menschen als eine mit transzendenter Würde begabte Person.
(...) In der Tat, welche Würde besteht, wenn die Möglichkeit fehlt, frei die eigene Meinung zu äußern oder ohne Zwang den eigenen Glauben zu bekennen? Welche Würde ist möglich ohne einen klaren juristischen Rahmen, der die Gewaltherrschaft begrenzt und das Gesetz über die Tyrannei der Macht siegen lässt? Welche Würde kann jemals ein Mensch haben, der zum Gegenstand von Diskriminierung aller Art gemacht wird? Welche Würde soll jemals einer finden, der keine Nahrung beziehungsweise das Allernotwendigste zum Leben hat und - schlimmer noch - dem die Arbeit fehlt, die ihm Würde verleiht?
Die Würde des Menschen zu fördern, bedeutet anzuerkennen, dass er unveräußerliche Rechte besitzt, deren er nicht nach Belieben und noch weniger zugunsten wirtschaftlicher Interessen von irgendjemandem beraubt werden kann.
Man muss aber Acht geben, nicht Missverständnissen zu verfallen, die aus einem falschen Verständnis des Begriffes Menschenrechte und deren widersinnigem Gebrauch hervorgehen. (...)
Ich meine daher, dass es überaus wichtig ist, heute eine Kultur der Menschenrechte zu vertiefen, die weise die individuelle, oder besser die persönliche Dimension mit der des Gemeinwohls - mit jenem "'Wir alle', das aus Einzelnen, Familien und kleineren Gruppen gebildet wird, die sich zu einer sozialen Gemeinschaft zusammenschließen" - zu verbinden versteht. Wenn nämlich das Recht eines jeden nicht harmonisch auf das größere Wohl hin ausgerichtet ist, wird es schließlich als unbegrenzt aufgefasst und damit zur Quelle von Konflikten und Gewalt. (...)
Mit Bedauern ist festzustellen, dass im Mittelpunkt der politischen Debatte technische und wirtschaftliche Fragen vorherrschen auf Kosten einer authentischen anthropologischen Orientierung. Der Mensch ist in Gefahr, zu einem bloßen Räderwerk in einem Mechanismus herabgewürdigt zu werden, der ihn nach dem Maß eines zu gebrauchenden Konsumgutes behandelt, so dass er - wie wir leider oft beobachten - wenn das Leben diesem Mechanismus nicht mehr zweckdienlich ist, ohne viel Bedenken ausgesondert wird, wie im Fall der Kranken im Endstadium, der verlassenen Alten ohne Pflege oder der Kinder, die vor der Geburt getötet werden. (...)
Ein Europa, das nicht mehr fähig ist, sich der transzendenten Dimension des Lebens zu öffnen, ist ein Europa, das in Gefahr gerät, allmählich seine Seele zu verlieren und auch jenen "humanistischen Geist", den es doch liebt und verteidigt.
Gerade ausgehend von der Notwendigkeit einer Öffnung zum Transzendenten möchte ich die Zentralität des Menschen bekräftigen, der andernfalls zum Spielball der Moden und der jeweiligen Mächte wird. In diesem Sinne halte ich nicht nur das Erbe, welches das Christentum in der Vergangenheit der soziokulturellen Gestaltung des Kontinentes überlassen hat, für grundlegend, sondern vor allem den Beitrag, den es heute und in der Zukunft zu dessen Wachstum zu leisten gedenkt. Dieser Beitrag stellt nicht eine Gefahr für die Laizität der Staaten und für die Unabhängigkeit der Einrichtungen der Union dar, sondern eine Bereicherung. Das zeigen uns die Ideale, die Europa von Anfang an geformt haben, wie der Friede, die Subsidiarität und die wechselseitige Solidarität - ein Humanismus, in dessen Zentrum die Achtung der Würde der Person steht. (...)
Gerade ausgehend von der Notwendigkeit einer Öffnung zum Transzendenten möchte ich die Zentralität des Menschen bekräftigen, der andernfalls zum Spielball der Moden und der jeweiligen Mächte wird. In diesem Sinne halte ich nicht nur das Erbe, welches das Christentum in der Vergangenheit der soziokulturellen Gestaltung des Kontinentes überlassen hat, für grundlegend, sondern vor allem den Beitrag, den es heute und in der Zukunft zu dessen Wachstum zu leisten gedenkt. Dieser Beitrag stellt nicht eine Gefahr für die Laizität der Staaten und für die Unabhängigkeit der Einrichtungen der Union dar, sondern eine Bereicherung. Das zeigen uns die Ideale, die Europa von Anfang an geformt haben, wie der Friede, die Subsidiarität und die wechselseitige Solidarität - ein Humanismus, in dessen Zentrum die Achtung der Würde der Person steht.
Darum möchte ich erneut die Bereitschaft des Heiligen Stuhls und der katholischen Kirche betonen, durch die Kommission der Europäischen Bischofskonferenzen (COMECE) einen gewinnbringenden, offenen und transparenten Dialog mit den Institutionen der Europäischen Union zu pflegen. Ebenso bin ich überzeugt, dass ein Europa, das fähig ist, sich die eigenen religiösen Wurzeln zunutze zu machen, indem es ihren Reichtum und ihre inneren Möglichkeiten zu ergreifen versteht, auch leichter immun sein kann gegen die vielen Extremismen, die sich in der heutigen Welt verbreiten - auch aufgrund des großen ideellen Vakuums, das wir im sogenannten Westen erleben, denn "es ist gerade die Gottvergessenheit und nicht seine Verherrlichung, die Gewalt erzeugt". (...)
Das Motto der Europäischen Union ist Einheit in der Verschiedenheit. Doch Einheit bedeutet nicht politische, wirtschaftliche, kulturelle oder gedankliche Uniformität. In Wirklichkeit lebt jede authentische Einheit vom Reichtum der Verschiedenheiten, die sie bilden: wie eine Familie, die umso einiger ist, je mehr jedes ihrer Mitglieder ohne Furcht bis zum Grund es selbst sein kann. (...)
Andererseits bilden die Eigenarten eines jeden in dem Maß, wie sie in den Dienst aller gestellt werden, einen echten Reichtum. Man muss sich immer an die besondere Struktur der Europäischen Union erinnern, die auf den Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität gründet, so dass die gegenseitige Hilfe vorherrscht und man, beseelt von gegenseitigem Vertrauen, vorangehen kann. (...)
Die Demokratie in Europa lebendig zu erhalten erfordert, viele "Globalisierungsarten" zu vermeiden, die die Wirklichkeit verwässern: die engelhaften Purismen, die Totalitarismen des Relativen, die geschichtswidrigen Fundamentalismen, die Ethizismen ohne Güte, die Intellektualismen ohne Weisheit.
Die Wirklichkeit der Demokratien lebendig zu erhalten, ist eine Herausforderung dieses geschichtlichen Momentes: zu vermeiden, dass ihre reale Kraft - die politische Ausdruckskraft der Völker - verdrängt wird angesichts des Drucks multinationaler, nicht universaler Interessen, die sie schwächen und in vereinheitlichende Systeme finanzieller Macht im Dienst von unbekannten Imperien verwandeln. (...)
Europa hat in einem lobenswerten Einsatz zugunsten der Ökologie immer in der vordersten Reihe gestanden. Diese unsere Erde braucht tatsächlich eine ständige Pflege und Aufmerksamkeit, und jeder trägt eine persönliche Verantwortung in der Bewahrung der Schöpfung, dieses kostbaren Geschenkes, das Gott in die Hände der Menschen gelegt hat. Das bedeutet einerseits, dass die Natur uns zur Verfügung steht, wir uns an ihr freuen und sie in rechter Weise gebrauchen können. Andererseits bedeutet es jedoch, dass wir nicht ihre Herren sind. Hüter, aber nicht Herren. (...)
Es ist nicht tolerierbar, dass Millionen von Menschen in der Welt den Hungertod sterben, während jeden Tag Tonnen von Lebensmitteln von unseren Tischen weggeworfen werden. Außerdem erinnert uns die Achtung gegenüber der Natur daran, dass der Mensch selbst ein grundlegender Teil von ihr ist. Neben der Ökologie der Umwelt bedarf es daher jener Ökologie des Menschen, die in der Achtung der Person besteht, die ich heute in meinen Worten an Sie ins Gedächtnis rufen wollte.
Der zweite Bereich, in dem die Talente des Menschen zur Blüte kommen, ist die Arbeit. Es ist Zeit, die Beschäftigungspolitik zu fördern. Vor allem aber ist es notwendig, der Arbeit wieder Würde zu verleihen, indem man auch angemessene Bedingungen für ihre Ausübung gewährleistet. Das schließt einerseits ein, neue Methoden zu finden, um die Flexibilität des Marktes mit der Notwendigkeit von Stabilität und Sicherheit der Arbeitsperspektiven zu verbinden, die für die menschliche Entwicklung der Arbeiter unerlässlich sind. Andererseits bedeutet es, einen angemessenen sozialen Kontext zu begünstigen, der nicht auf die Ausbeutung der Menschen ausgerichtet ist, sondern durch die Arbeit die Möglichkeit garantiert, eine Familie aufzubauen und die Kinder zu erziehen.
Gleichermaßen ist es notwendig, gemeinsam das Migrationsproblem anzugehen. Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird! Auf den Kähnen, die täglich an den europäischen Küsten landen, sind Männer und Frauen, die Aufnahme und Hilfe brauchen. Das Fehlen gegenseitiger Unterstützung innerhalb der Europäischen Union läuft Gefahr, partikularistische Lösungen des Problems anzuregen, welche die Menschenwürde der Einwanderer nicht berücksichtigen und Sklavenarbeit sowie ständige soziale Spannungen begünstigen.
Europa wird imstande sein, die mit der Einwanderung verbundenen Problemkreise zu bewältigen, wenn es versteht, in aller Klarheit die eigene kulturelle Identität vorzulegen und geeignete Gesetze in die Tat umzusetzen, die fähig sind, die Rechte der europäischen Bürger zu schützen und zugleich die Aufnahme der Migranten zu garantieren (...).
Herr Präsident, Exzellenzen, meine Damen und Herren Abgeordnete, das Bewusstsein der eigenen Identität ist auch notwendig, um konstruktiv mit den Staaten zu verhandeln, die gebeten haben, in Zukunft der Union beizutreten. Ich denke vor allem an jene aus dem balkanischen Raum, für die der Eintritt in die Europäische Union dem Friedensideal entsprechen kann, in einer Region, die unter den Konflikten der Vergangenheit so sehr gelitten hat. Und schließlich ist das Bewusstsein der eigenen Identität unerlässlich in den Beziehungen zu den anderen Nachbarländern, besonders zu denen, die ans Mittelmeer grenzen, von denen viele aufgrund innerer Konflikte und unter dem Druck des religiösen Fundamentalismus und des internationalen Terrorismus leiden. (...)
Ihnen, verehrte Mitglieder des Parlaments, kommt als gesetzgebende Instanz die Aufgabe zu, die europäische Identität zu bewahren und wachsen zu lassen, damit die Bürger wieder Vertrauen in die Institutionen der Union und in den Plan des Friedens und der Freundschaft gewinnen, der das Fundament der Union ist."Je mehr die Macht der Menschen wächst, desto mehr weitet sich ihre Verantwortung, sowohl die der Einzelnen wie die der Gemeinschaften." In diesem Wissen appelliere ich daher an Sie, daran zu arbeiten, dass Europa seine gute Seele wiederentdeckt.
(...)
Liebe Europaabgeordnete, die Stunde ist gekommen, gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person, der unveräußerlichen Werte; das Europa, das mutig seine Vergangenheit umfasst und vertrauensvoll in die Zukunft blickt, um in Fülle und voll Hoffnung seine Gegenwart zu leben. Es ist der Moment gekommen, den Gedanken eines verängstigten und in sich selbst verkrümmten Europas fallen zu lassen, um ein Europa zu erwecken und zu fördern, das ein Protagonist ist und Träger von Wissenschaft, Kunst, Musik, menschlichen Werten und auch Träger des Glaubens ist. Das Europa, das den Himmel betrachtet und Ideale verfolgt; das Europa, das auf den Menschen schaut, ihn verteidigt und schützt; das Europa, das auf sicherem, festem Boden voranschreitet, ein kostbarer Bezugspunkt für die gesamte Menschheit! |
"Ein Europa, das nicht mehr offen ist für die transzendente Dimension des Lebens, riskiert, langsam seine eigene Seele und jenen 'humanistischen Geist' zu verlieren, den es weiterhin liebt und verteidigt", sagte Franziskus. Die Kirche wolle einen aktiven Austausch mit den europäischen Institutionen und dabei helfen, das gegenwärtige "Vakuum der Ideale" neu zu füllen, unterstrich Franziskus. Konkret nannte der Papst den Einsatz für Menschenrechte, die Stärkung der Demokratie und das Engagement für Familie, Arbeit, Umwelt und Migranten.
Heute wirke Europa oft alt, müde und ohne Selbstvertrauen angesichts seines drohenden Bedeutungsverlusts in der Welt, führte der Papst aus. Gleichzeitig nehme das Vertrauen der Bürger in die Gestaltungskraft der Europäischen Union ab. Dagegen wolle er dem Kontinent eine Botschaft der Hoffnung und Ermutigung bringen, sagte Franziskus. In der gegenwärtigen Krise liege die Chance zu einem stärkeren Zusammenhalt der Staaten. Europa müsse "zur festen Überzeugung der Gründungsväter der Europäischen Union zurückehren, die sich eine Zukunft wünschten, die auf der Fähigkeit basiert, gemeinsam zu arbeiten, um die Teilungen zu überwinden und den Frieden und die Gemeinschaft unter allen Völkern des Kontinents zu fördern".
Einsatz für Menschenrechte
Besonders hob Franziskus den europäischen Einsatz für die Rechte und die Würde des einzelnen Menschen hervor. Eine der Wurzeln dieser Ideale sei das Christentum. Doch die Menschenwürde bleibe gefährdet, "denn es gibt immer noch zu viele Situationen, in denen Menschen wie Objekte behandelt werden, deren Anlagen, Gestalt und Nützlichkeit programmiert werden, und die weggeworfen werden können, wenn sie nicht mehr nützlich sind, wegen Schwäche, Krankheit oder Alter", sagte der Papst: "Der Mensch ist in Gefahr, zu einem bloßen Räderwerk in einem Mechanismus herabgewürdigt zu werden, der ihn nach dem Maß eines zu gebrauchenden Konsumgutes behandelt, so dass er - wie wir leider oft beobachten - wenn das Leben diesem Mechanismus nicht mehr zweckdienlich ist, ohne viel Bedenken ausgesondert wird, wie im Fall der Kranken im Endstadium, der verlassenen Alten ohne Pflege oder der Kinder, die vor der Geburt getötet werden."
Der Papst warnte vor einem fehlgeleiteten Menschenrechtsverständnis, das immer mehr und mehr Rechte für den einzelnen fordere, "ohne zu beachten, dass jeder Mensch Teil eines sozialen Kontextes ist, in dem seine oder ihre Rechte verbunden sind mit denen anderer und dem Gemeinwohl der Gesellschaft selbst." Dieser ausufernde Individualismus, der den Einzelnen verabsolutiere Menschen, führe letztlich zur Einsamkeit. "Meines Erachtens ist die Einsamkeit heute eine der verbreitetsten Krankheiten in Europa", sagte Franziskus.
"Kraft der Demokratie erhalten"
Um im Geist seiner Gründungsväter in Frieden und Eintracht zu wachsen, müsse sich Europa der Ideale Friede, Subsidiarität und wechselseitige Solidarität besinnen, die es von Beginn des gemeinsamen Einigungsprozesse geformt hätten, wandte sich Franziskus direkt an die Angeordneten. "Die Stunde ist gekommen, gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person, der unveräußerlichen Werte". Die Europaparlamentarier sollten ihre Verantwortung wahrnehmen, die Demokratie in Europa lebendig zu erhalten. Es gelte zu vermeiden, dass die "reale Kraft [der Demokratie, Anm.] - die politische Ausdruckskraft der Völker - verdrängt wird angesichts des Drucks multinationaler, nicht universaler Interessen, die sie schwächen und in vereinheitlichende Systeme finanzieller Macht im Dienst von unbekannten Imperien verwandeln", so der Papst.
Ein Europa, das sich seine eigenen religiösen Wurzeln zunutzemache, sei auch leichter immun gegen die vielen Extremismen der heutigen Welt. Gottvergessenheit und nicht die Verherrlichung Gottes erzeuge Gewalt betonte Franziskus und erinnerte in diesem Zusammenhang auch an das Schicksal vieler Christen, die heute "unter dem beschämenden und begünstigenden Schweigen vieler" barbarischer Gewalt ausgesetzt sehen.
Familie fundamental für Gesellschaft
Franziskus bezeichnete die "geeinte, fruchtbare und unauflösliche Familie" als fundamental für die Zukunftshoffnung Europas. Familie sei die grundlegende Zelle und kostbarer Bestandteil jeder Gesellschaf. "Ohne diese Festigkeit baut man letztlich auf Sand, mit schweren gesellschaftlichen Folgen", warnte er. Schließlich diene die Betonung der Familie nicht nur dazu, künftigen Generationen Hoffnung zu vermitteln, sondern auch den vielen alten Menschen, die heute oft in Situationen der Einsamkeit und der Verlassenheit lebten.
Zudem forderte der Papst, der Arbeit wieder Würde zu verleihen. Neue Methoden müssten gefunden werden, um die Flexibilität des Marktes mit der Notwendigkeit von Stabilität und Sicherheit für die arbeitenden Menschen zu verbinden, betonte Franziskus. In der Arbeitswelt brauche es einen angemessenen sozialen Kontext, "der nicht auf die Ausbeutung der Menschen ausgerichtet ist, sondern durch die Arbeit die Möglichkeit garantiert, eine Familie aufzubauen und die Kinder zu erziehen".
Beim Einsatz für die Ökologie habe Europa "immer in der vordersten Reihe" gestanden, lobte der Papst. Jeder trage aber auch eine persönliche Verantwortung zur Bewahrung der Schöpfung, man sei "Hüter, aber nicht Herren" der Welt. "Es ist nicht tolerierbar, dass Millionen von Menschen in der Welt den Hungertod sterben, während jeden Tag Tonnen von Lebensmitteln von unseren Tischen weggeworfen werden", mahnte Franziskus auch konkrete Veränderungen ein."
"Nicht hinnehmen, dass Mittelmeer zu Friedhof wird"
Außerdem forderte der Papst eine gemeinsame Strategie der EU-Staaten zur Bewältigung der Flüchtlingsproblematik an den Südgrenzen des Kontinents. "Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird." Die Männer und Frauen, die auf Schiffen nach Europa gelangten, bräuchten Aufnahme und Hilfe. Durch das Fehlen gegenseitiger Unterstützung gerate die Menschenwürde der Einwandere in Vergessenheit, Sklavenarbeit sowie ständige soziale Spannungen würden begünstigt.
Europa sei imstande die mit Einwanderung verbundenen Problemkreise zu bewältigen, zeigte sich der Papst überzeugt. Dazu sei es auch notwendig, auf die Ursachen der Migration einzuwirken und nicht nur auf die Folgen. Europa müsse "mutige und konkrete" politische Maßnahmen ergreifen, "die den Herkunftsländern der Migranten bei der sozio-politischen Entwicklung und bei der Überwindung der internen Konflikte - dem Hauptgrund dieses Phänomens - helfen, anstatt Politik der Eigeninteressen zu betreiben, die diese Konflikte steigert und nährt".
Konkret wurde der Papst auch in der Debatte um die Erweiterung der Union auf dem Westbalkan. Nur ein sich der eigenen Identität bewusstes Europa könne konstruktiv mit Beitrittsländern verhandeln, so Franziskus. Er denke hier vor allem an jene Länder vom Balkan, "für die der Eintritt in die Europäische Union dem Friedensideal entsprechen kann, in einer Region, die unter den Konflikten der Vergangenheit so sehr gelitten hat".