Option für das Leben in Fülle
Vor 30 Jahren habe ich mich für das Ordensleben und damit für das Leben in Armut, Gehorsam und Ehelosigkeit entschieden. In diesen Jahren ist in mir die Überzeugung gewachsen, dass diese „evangelischen Räte“ für alle Glaubenden, nicht nur für die Ordens- leute, Bedeutung haben. Zum einen, weil in ihnen – recht verstanden und gelebt – etwas Heilvolles für unser Miteinander liegt, und zum anderen – auf einer tieferen Ebene –, weil sich in ihnen die Art und Weise zeigt, wie Jesus seine Verbundenheit mit Gott und seine Sendung in der Welt gelebt hat. So hat es zumindest die Tradition aus dem Evangelium herausgelesen.
Es geht bei den evangelischen Räten also um Nachfolge Jesu, um eine Option für seinen Lebensstil. Dazu sind alle gerufen. Für die Ordensleute gilt, dass sie die Räte in Gemeinschaft leben und ihren Wert durch die Gelübde in der Kirche wach halten.
Fragen der Lebenskultur
Allerdings sind Jungfräulichkeit, Gehorsam und Armut heute weitgehend „entzaubert“. Waren sie früher erstrebenswerte und hochgeschätzte Tugenden, so gilt heute aus vielen Gründen oft das Gegenteil: Wer nach den evangelischen Räten leben will, muss sich rechtfertigen. Glaubhaft ist dieses Leben, wenn seine heilsame und befreiende Wirkung erfahrbar wird. Dabei geht es nicht darum, einzelne Weisungen zu befolgen, sondern es geht um eine Lebenskultur, um eine übereinstimmende Lebensgestalt. Kultur aber „ist die Art und Weise, wie die Menschen leben und was sie aus sich selbst und ihrer Welt machen“ (Gerhard Maletzke).
Ein Leben nach den Räten des Evangeliums antwortet damit zum Beispiel auf die Fragen: Wie lebst du, wie gestaltest du deine Beziehungen, deine Geschlechtlichkeit, dein
Besitzstreben? Wie lebst du Macht und Einfluss, wie deine Bedürftigkeit? Wie gehst du mit dem Raum um, der dir verfügbar ist, wie stehst du zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft?
Miteinander von Gott und Mensch
Bei der Ehelosigkeit wird wie in Mt 19,12 meist hinzugesetzt: „um des Himmelreiches willen“. Eigentlich gehört dieser Zusatz zu jedem Rat des Evangeliums. Armut, Gehorsam und Ehelosigkeit sind nicht Ziele in sich, sondern sie sind auf etwas Größeres hingeordnet: Dass nämlich Gottes liebende Herrschaft in dieser Welt Gestalt annimmt, in und durch das Leben von Menschen.
Das heißt, dass es nicht (bloß) um das rechte Leben des Einzelnen geht, sondern um eine gemeinschaftliche Größe, um das Miteinander von Gott und Mensch, um ein gedeihliches Zusammenleben und um Strukturen, die es Menschen ermöglichen, mit der liebenden Präsenz Gottes in Kontakt zu kommen. So wird gleichsam ein Herzenswunsch Jesu Christi erfüllt, freilich nur unvollkommen und im Fragment. Meine Erfahrung ist: Mit den evangelischen Räten sind wir gut beraten.
Sr. Anneliese Herzig MSsR
Quelle: Zeitschrift "miteinander" des Canisiuswerkes, Ausgabe 1-2 2015