"Viele Familien sind heute erschöpft"
"Viele Familien sind heute erschöpft": Mit diesen Worten hat der Wiener Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner auf die Notwendigkeit einer neuen Vereinbarkeit von Arbeit und Familie verwiesen. "In der heutigen Zeit ist volle Berufstätigkeit mit Kindern nicht vereinbar", so der Theologe in einem Interview mit der "Kleinen Zeitung" (Sonntag). Die große Vision: "Man sollte sich Zeit für Kinder - und auch für die Alten - nehmen können, ohne Benachteiligung für Karriere oder Pensionszeiten." Hinter der Misere ortet Zulehner ein sozialpartnerschaftliches Problem, das nur über neue Vereinbarungen zwischen Wirtschaft und Familie lösbar sei.
Am Bewusstsein für die eigene Verantwortung dem Kind gegenüber scheitere es nicht, "denn junge Väter und Mütter wissen, dass es ihnen gut tut, wenn sie Zeit haben für Kinder. Oft möchten sie, aber können nicht, weil sie von der Ökonomie festgehalten werden", so Zulehner. Eine Einheitslösung werde vor dem Hintergrund der Pluralität an Familienmodellen nur schwer zu finden sein. Ideal wären Lebensarbeitszeitmodelle, so der Theologe. "Und dann natürlich gute Entlastungssysteme wie Tagesmütter, Tagesstätten - auch für pflegebedürftige Senioren."
Familien seien in Gefahr, durch eine Allianz von Ökonomismus und Feminismus aufgerieben zu werden. Grundsätzlich sei es "gut und richtig", dass Frauen arbeiten. Kontraproduktiv wirke sich allerdings das derzeitige "frauenpolitische Modell" aus, das viele Männer und Frauen überfordere. "Manche sagen schon, es unterdrückt viele Frauen ebenso wie das Patriarchat".
Familie müsse als "Gedeihraum" verstanden werden, in dem Stabilität und Liebe erlebbar würden. Gerade in Zeiten, in denen das öffentliche Leben immer fordernder werde, so Zulehner, brauche es einen Raum als "Parkplatz für die Seele". Familiengründungen alleine durch Elterngeld anfeuern zu wollen, hält der Theologe für kurzsichtig. "Viele Menschen sorgen sich um ihren Arbeitsplatz. Sie müssen aber das Gefühl haben, dass sie die Jahre, wo die Kinder klein sind, als sichere Zeit überleben."
Schließlich nahm der Theologe auch jeden Einzelnen in die Pflicht. Die Versprechen vieler Brautleute meinten schon lange nicht mehr eine lebenslange Liebe und würden sich nur mehr auf jene Zeiten beziehen, "in denen es uns in der Ehe gut geht". Für Zulehner ein "Verrat der Liebe beziehungsweise eine Halbierung der Liebe". Als Kirche hier mahnend den Zeigefinger zu heben, sei allerdings falsch. Es brauche vielmehr eine "ärztliche, heilende" Kirche.