"Die Menschen tun mir gut"
"Die Menschen tun mir gut", hat Papst Franziskus in einem Interview erklärt, das er mit dem Journalisten Juan Berretta von der argentinischen Zeitung "La voz del pueblo" am 20. Mai im Vatikan geführt hat. Der "Kathpress-Infodienst" bringt Auszüge aus dem Wortlaut des 45-minütigen Gespräch, in dem Franziskus mehrere tiefe Einblicke in seine Person und Amtsführung gewährte, in einer eigenen Übersetzung aus dem Spanischen.
Frage: Spüren Sie, welche magnetischen Kräfte sie auf die Menschen ausüben? Ich sage dies aufgrund des zusätzlichen Interesses, die Ihre Person dem Papstamt beschert.
Papst Franziskus: Zuerst verstand ich nicht, warum das so passiert. Einige Kardinäle erzählen mir, die Leute würden sagen "wir verstehen ihn". Klar, ich versuche in den Audienzen plastisch zu sein, in den Dingen die ich sage, wie etwa heute, als ich eine Anekdote über meine Schulzeit in der vierten Klasse erzählte. Oder als ich vom Fall der getrennten Eltern sprach, die die Kinder als Geiseln missbrauchen - etwas sehr trauriges, sie machen sie zu Opfern, der Vater spricht schlecht von der Mutter oder umgekehrt, und das arme Kind muss alles auf den Kopf stellen, was es bisher geglaubt hat. Ich versuche konkret zu sein, und wenn Sie das Magnetismus nennen, hat das laut den Kardinälen mit der Verstehensweise der Menschen zu tun.
Frage: Genießen Sie es, in der Öffentlichkeit zu sprechen?
Franziskus: Ja, ich genieße es in menschlichem und spirituellem Sinn gleichermaßen. Die Menschen tun mir gut, es ist, als ob mein Leben sich mit dem der Menschen vermischt. Rein psychologisch kann ich nicht ohne Menschen leben, ich würde nicht als Mönch taugen, deshalb bleibe ich hier im vatikanischen Gästehaus, wo es 210 Zimmer gibt und wo wir 40 Bewohner sind, die im Vatikan arbeiten, die anderen sind Gäste, Bischöfe, Priester oder Laien, die vorbeikommen und hier bleiben. Und das tut mir sehr gut. Hierher zu kommen, im Speiseraum zu essen wo die anderen Leute sind, die Frühmesse zu halten, in der viermal pro Woche Leute von draußen, auch aus den Pfarren, kommen... das gefällt mir sehr. Ich bin Priester geworden, um bei den Leuten zu sein. Ich danke Gott dafür, dass sich das nicht geändert hat.
Frage: Gehen Sie manchmal in die Stadt?
Franziskus: Nein (lacht laut). Ich gehe nur in die Pfarren... aber ich kann nicht rausgehen. Stellen Sie sich vor, dass ich auf die Straße gehen würde, was dann los wäre. Eines Tages bin ich im Auto nur mit einem Chauffeur unterwegs gewesen und hatte vergessen, das Fenster zu schließen, es fiel mir gar nicht auf. Da habe ich einen Schlamassel angerichtet... ich saß am Beifahrersitz, und wir sollten nur ein Stück weit fahren, doch die Leute ließen das Auto nicht mehr vorankommen. Klar, dass da der Papst auf der Straße ist...
Frage: Das hat mit ihrer Wesensart zu tun.
Franziskus: Es stimmt, dass ich hier im Ruf bin, undiszipliniert zu sein, weil ich mich nicht ans Protokoll halte. Das Protokoll ist sehr kalt, obwohl es auch Vorschriften gibt, die ich vollständig befolge.
Frage: Beim Besuch in Manila vorigen Sommer haben Sie davon gesprochen, wie wichtig es ist zu weinen. Weinen Sie selbst?
Franziskus: Wenn ich menschliche Tragödien sehe. Wie kürzlich, als ich erfuhr wie es dem Rohingya-Volk ergeht, deren Leute in Booten auf den thailändischen Gewässern unterwegs sind und die, wenn sie sich der Küste nähern, zwar mit ein wenig Nahrung und Wasser versorgt werden, dann aber wieder aufs Meer hinausgeschickt werden. Das bewegt mich zutiefst, diese Art von Dramen.
Dann auch die kranken Kinder: Wenn ich jene sehe, die von den sogenannten "seltenen Krankheiten" betroffen sind, da werde ich innerlich erschüttert. Wenn ich die Betroffenen sehe, sage ich dem Herrn: "Warum sie, und nicht ich?".
Auch die Gefängnisbesuche berühren mich sehr: Zwei der drei meiner bisherigen Gründonnerstage als Papst war ich in Gefängnissen, einmal in einer Haftanstalt für Minderjährige, einmal im Rebibbia-Gefängnis. Dann später war ich auch in anderen italienischen Städten, die ich besucht habe, im Gefängnis, habe mit den Menschen dort zu Mittag gegessen, und in den Gesprächen dort kam mir: "Wenn ich nur daran denke, dass auch ich hier sein könnte." Weil niemand von uns kann sich sicher sein, dass er nie eine Straftat begehen wird, für die er inhaftiert wird. Dann sage ich mir: Warum hat Gott erlaubt, dass ich nicht hier gelandet bin? Und ich verspüre Schmerz für sie, danke Gott dass ich nicht an ihrer Stelle bin, was bei ihnen auch daher kommt, dass sie nicht dieselben Möglichkeiten wie ich hatten, Verbrechen aus dem Weg zu gehen, auf welche es Gefängnis gibt. Das führt mich zu einem innerlichen Weinen. Ich spüre das sehr.
Frage: Aber kommt es manchmal so weit, dass Sie Tränen weinen?
Franziskus: In der Öffentlichkeit weine ich nicht. Zweimal ist es mir schon passiert, dass ich knapp davor war, aber ich konnte mich noch rechtzeitig einbremsen. Ich war zu sehr bewegt, und mir sind sogar schon einige Tränen entwischt, aber ich habe mich dumm gestellt und habe sie erst einige Zeit später mit der Hand weggewischt.
Frage: Warum wollten Sie nicht, dass die Menschen Sie weinen sehen?
Franziskus: Ich weiß es nicht, aber ich hatte das Gefühl, dass ich weitermachen muss.
Frage: Bei welchen Situationen war das?
Franziskus: An eine der beiden kann ich mich noch erinnern. Es hatte zu tun mit der Verfolgung der Christen im Irak. Ich sprach damals darüber, und es hatte mich tief bewegt. An diese Kinder zu denken...
Frage: Wovor haben Sie Angst?
Franziskus: Grundsätzlich habe ich keine Angst. Ich bin eher tollkühn, handle manchmal ohne an die Folgen zu denken. Das verursacht mir dann manchmal Kopfschmerzen, wenn mir da ein Wort entrutscht (lacht laut). Was die Gefahr von Attentaten betrifft, bin ich in Gottes Händen, bete zu ihm: "Herr, wenn das sein muss, dann erbitte ich nur eine Gnade von dir, nämlich dass es mir nicht wehtut" (lacht), weil ich bin nämlich ein Feigling, was den körperlichen Schmerz betrifft. Den moralischen Schmerz ertrage ich, den physischen aber nicht. Ich bin sehr ängstlich, nicht etwa dass ich Angst vor einer Spritze hätte, doch habe ich eben lieber keine Probleme mit körperlichem Schmerz, ertrage ihn nicht. Ich sehe das als Überbleibsel von der Lungenoperation, die ich als 19-Jähriger hatte.
Frage: Spüren Sie Arbeitsdruck?
Franziskus: Druck gibt es schon, aber das betrifft ja jede Regierungsperson. Was mir im Moment am meisten zu schaffen macht, ist die Intensität der Arbeit. Ich habe einen sehr dichten Arbeitsrhythmus, das ist auch das Schuljahresende-Syndrom. Tausend Dinge häufen sich da auf, und es gibt Probleme .... Und dann gibt es da noch die Probleme, die man dir macht, weil ich Dinge gesagt oder nicht gesagt hätte .... Die Medien nehmen manchmal ein Wort von mir und reißen es aus dem Zusammenhang. Vor kurzem etwa in der Pfarre Ostia bei Rom habe ich die Leute begrüßt, wobei man die Alten und die Kranken in einem Turnsaal auf mich warten ließ. Sie saßen, ich ging vorbei, begrüßte sie und sagte: "Schaut nur, wie lustig, hier wo sonst die Jungen spielen, sind heute die Alten und Kranken. Ich verstehe euch, weil ich auch alt bin und weil ich auch meine Wehwehchen habe, auch ich bin ein wenig krank." Schon am nächsten Tag war in den Zeitungen zu lesen: "Der Papst hat zugegeben, dass er krank ist." Gegen diesen Feind kann man nicht ankommen.
Frage: Überblicken Sie alles, was so veröffentlicht wird?
Franziskus: Nein, nein. Ich lese nur eine Tageszeitung, La Repubblica, und zwar morgens, und brauche zum Durchblättern höchstens zehn Minuten. Fernsehen schaue ich schon seit - (überlegt) - 1990 nicht. Das ist ein Versprechen, das ich der Jungfrau vom Carmen in der Nacht des 15. Juli 1990 gegeben habe.
Frage: Aus irgendeinem speziellen Grund?
Franziskus: Nein, nein, ich sagte nur "das ist nichts für mich".
Frage: Sehen sie nicht die Fußballspiele von San Lorenzo [Anm.: Argentinischer Fußballclub, dessen Mitglied der Papst ist]?
Franziskus: Ich sehe nichts.
Frage: Wie wissen Sie dann über die Ergebnisse bescheid?
Franziskus: Jemand aus der Schweizergarde lässt mir jede Woche die Ergebnisse und den aktuellen Platz in der Tabelle zukommen.
Frage: Im Vergleich mit anderen Päpsten, sind Sie eher ein Messi oder ein Mascherano [Anm.: zwei argentinische Fußballstars]?
Franziskus: Ich könnte das gar nicht sagen, weil ich die Spielweise beider nicht unterscheiden kann, weil ich eben nicht Fußball schaue. Messi war zweimal hier und das wars auch schon - ich habe ihn sonst nicht gesehen.
Frage: Surfen Sie im Internet?
Franziskus: Gar nicht. Und Interviews gab ich früher nie, jetzt wird es mir geschenkt, das ist Gnade. Früher hatte ich panische Angst vor Journalisten.
Quelle: kathpress infodienst