Wien, 07.05 21 (poi) Zwischen säkularer Zivilgesellschaft und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften in Südosteuropa gibt es zum Teil ein erhebliches gegenseitiges Misstrauen bzw. auch Vorbehalte, die einer verstärkten Zusammenarbeit im Weg stehen. Dieses Misstrauen gilt es daher aufzubrechen. Das war eine wesentliche Einsicht beim dritten Teil der vierteiligen Online-Tagungsserie "Mit- und Nebeneinander. Religionsgemeinschaften und Zivilgesellschaft im südöstlichen Europa". Die Konferenz widmet sich der Frage nach dem Umgang der Religionsgemeinschaften mit zivilgesellschaftlichen Zielen und Aktionen im südöstlichen Europa seit 1989.
Unter der Moderation von Konrad Clewing, Historiker am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg, diskutierten am Donnerstag, 6. Mai, der Grazer Sozialethiker Prof. Leopold Neuhold, der Grazer Kirchenhistoriker und Ostkirchenexperte Prof. Pablo Argarate, der Wiener Ostkirchenexperte Prof. Thomas Nemeth, der Soziologe und Osteuropa-Experte Dr. Jochen Töpfer von der Freien Universität Berlin sowie Dr. Angela Ilic, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München.
Einig waren sich die Expertin und die Experten, dass die Zusammenarbeit zwischen religiösen Gemeinschaften und säkularen zivilgesellschaftlichen Organisationen auf lokaler Ebene wesentlich besser funktioniert als auf nationaler. Über die vielen kleinen, leisen und wichtigen Initiativen werde aber viele zu wenig berichtet, während die großen Konflikte und Skandale im medialen Scheinwerferlicht stünden. Prof. Neuhold sprach in diesem Zusammenhang von einer "Verzerrung der Wirklichkeit". Die Berichterstattungsebene und die Handlungsebene klafften auseinander.
Dr. Ilic sprach den Medien eine weitere wichtige Funktion zu. Dass allgemeine religiöse Wissen der Bevölkerung in Südosteuropa sei wenig ausgeprägt. Oftmals würden Stereotype, Generalisierungen oder auch Stigmatisierungen vorherrschen, die dann von Medien auch noch verstärkt würden. Deren Aufgabe sei es aber, aufzuklären, objektiv zu berichten und zu informieren.
Eine solchen objektiven Journalismus vermisste Prof. Nemeth etwa auch in der Berichterstattung über die Griechisch-katholische Eparchie Mukatschewo in der Karpato-Ukraine. Dort gibt es von gewissen Seiten Bestrebungen, diese in die Ukrainische Griechisch-katholische Kirche einzugliedern. Medien unterstützten dies kampagnenartig, kritisierte Nemeth und mahnte ein objektive Berichterstattung ein.
Der Wiener Ostkirchenexperte wies in seinen Ausführungen u.a. auch auf die vielfältige Landschaft der katholischen Ostkirchen hin. Hier gebe es große Kirchen wie die Ukrainische Griechisch-katholische Kirche mit bis zu fünf Millionen Gläubigen, aber auch sehr kleine Gemeinschaften, etwa in Serbien oder Bulgarien mit nicht mehr als 10.000 Mitgliedern.
Mehr gegenseitige Offenheit notwendig
Der Berliner Soziologe Dr. Jochen Töpfer forscht vor allem in und über Albanien und Nordmazedonien. Er bestätigte den eingangs beschriebenen Befund, dass es zu wenig Begegnung und Austausch zwischen Kirchen und säkularen Initiativen und Organisationen gibt. Bei seinen Feldforschungen sei er oft der Einzige, der sowohl mit Kirchenvertretern wie auch Vertretern der Zivilgesellschaft das Gespräch suche.
Freilich seien aber auch die Kirchen nicht homogen, sondern es gebe innerhalb der einzelnen Gemeinschaften eine große Bandbreite an Einstellungen, so Töpfer. Vielerorts setze sich auch schon die innerkirchliche Einsicht durch, dass es mehr Offenheit brauche.
Vorbehalte gegen den Westen
Dr. Ilic und Prof. Argarate wiesen in ihren Ausführungen u.a. darauf, hin, dass es für die Kirchen aufgrund der schwierigen Geschichte im 20. Jahrhundert oftmals bis heute eine große Herausforderung sei, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Im Blick auf die Orthodoxie wies Argarate darauf hin, dass es schon einen wesentlichen Unterschied ausmache, ob die Kirchen in kommunistischen Systemen wie etwa in Rumänien oder Serbien, oder in einem Land wie Griechenland habe bestehen müssen. Das habe natürlich Auswirkungen auf die Stellung in der Gesellschaft wie etwa auch auf das soziale Engagement. Freilich: Unabhängig von den teils unterschiedlichen geschichtlichen Erfahrungen der Länder Südosteuropas gehe es in allen Staaten „in Richtung Westen“, so Argarate.
Er ortete allerdings in der Orthodoxie generell auch starke Vorbehalte gegen so genannte ‚westliche‘ Werte. Argarate sprach in diesem Zusammenhang etwa das Thema der gleichgeschlechtlichen Ehen an. Dr. Ilic wies in ihren Ausführungen auch auf die – nicht nur mit Blick auf die Frage nach ‚westlichen‘ Werten – besonders interessanten protestantischen Kirchen in Südosteuropa hin, die in Summe nur eine kleine Minderheit darstellen. So machen sie in Serbien ein Prozent der Bevölkerung aus, in Kroatien und Slowenien jeweils rund 0,3 Prozent, in Bulgarien 1,1 Prozent, in Rumänien 6,2 Prozent und in Albanien gar nur 0,07 Prozent.
Die vierteilige Online-Tagung "Mit- und Nebeneinander. Religionsgemeinschaften und Zivilgesellschaft im südöstlichen Europa"wird von der PRO ORIENTE-Kommission für südosteuropäische Geschichte, dem Zentrum für Südosteuropastudien der Universität Graz und dem Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der LMU München gemeinsam organisiert und durchgeführt. Teil vier findet am 20. Mai (ab 16 Uhr) statt.
Infos zur Konferenz bzw. die ersten drei Panels zum "Nachsehen": https://religion-und-zivilgesellschaft.info oder www.pro-oriente.at