Graz, 21.05.21 (poi) Das Überwinden der Kluft bzw. von Berührungsängsten zwischen Kirchen und Zivilgesellschaft in Südosteuropa ist eine der wesentlichen Herausforderungen für die Bewältigung dringend anstehender Reformen in der Region. Darüber waren sich die Experten des vierten und zugleich abschließenden Teils der internationalen Videokonferenz "Mit- und Nebeneinander. Religionsgemeinschaften und Zivilgesellschaft im südöstlichen Europa" einig. Der Grazer Völkerrechtler Prof. Wolfgang Benedek, der an der Universität Wien lehrende Politologe Vedran Dzihic, der Grazer Soziologe Prof. Manfred Prisching und der in Münster lehrende Ökumene- und Ostkirchenexperte Prof. Thomas Bremer bestritten die Konferenz am Donnerstagabend und beleuchteten die Thematik von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen aus.
Prof. Benedek sprach in seinen Ausführungen etwa davon, dass man das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Religionen in Südosteuropa eher als "Nicht-Verhältnis" charakterisieren können. Bei politischen Reformen, Demokratisierung oder der EU-Erweiterung würden die Kirchen bzw. Religionen kaum bis gar keine Rolle spielen, so der Befund Benedeks. Konfliktpotenzial ortete der Völkerrechtler im Blick auf ethno-nationalistische Tendenzen oder alle Fragen rund um Inter- und Transsexualität, gleichgeschlechtliche Ehen etc. Im Blick zurück auf die Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens mit den blutigen Nachfolgekriegen sagte Benedek, dass die Kirchen und Religionen damals stark ethno-nationalistisch ausgerichtet gewesen seien. Nach den Kriegen habe man wieder besser zueinander gefunden, "aber jeder bleibt in gewisser Weise seiner ethno-nationalen Rolle verhaftet, wenn auch nicht so ausgeprägt wie zuvor". Dies spieße sich mit einer Zivilgesellschaft, "die gerade gegen Ethno-Nationalismus versucht aufzutreten".
Die Zivilgesellschaft habe in Südosteuropa freilich grundsätzlich keinen leichten Stand. Ein wesentlicher Faktor sei die Armut, denn "wer schon um seinen täglichen Lebensunterhalt kämpfen muss, hat wenig Energie und Ressourcen für zivilgesellschaftliches Engagement", so Benedek. Hinzu komme, dass die herrschenden politischen Eliten zivilgesellschaftliche Initiativen sehr skeptisch sähen. Entsprechend wenig gesellschaftliche Entwicklung machte Benedek denn auch beispielweise in Staaten wie Bosnien-Herzegowina oder Montenegro aus.
Prof. Bremer wies in diesem Zusammenhang u.a. darauf hin, dass die Zivilgesellschaft in Südosteuropa sehr stark von NGOs dominiert werde, die gemeinheim aus dem Ausland bzw. international finanziert würden. Wirkliche Basisinitiativen, wo Menschen vor Ort das Heft in die Hand nehmen und ihr Leben bzw. ihren Lebensraum gestalten, seien weit weniger ausgeprägt. So gebe es das geflügelte Wort: "Was wir wollten, war die Zivilgesellschaft. Was wir bekommen haben, waren NGOS."
"bad civil society"
Prof. Prisching machte darauf aufmerksam, dass seit Jahren das Phänomen der "bad civil society" zunehme. Die Zivilgesellschaft bestehe eben nicht nur aus Gruppen, die sich beispielsweise für Umweltschutz, Menschenrechte, Demokratie oder gegen Korruption einsetzen. Es gebe auch immer mehr Gruppen, die destruktiv und spalterisch wirkten und eine Gefahr für Demokratien darstellten.
Der Politologe Vedran Dzihic warnte in diesem Zusammenhang vor einer zunehmenden politischen Autokratisierung, nicht nur in Südosteuropa. Damit einher gehe etwa das Erstarken rechtsextremer Formationen, die er zur angesprochenen "bad cicil society" rechnete. Dzihic: "Wir befinden uns in einem grundlegenden Strukturwandel der Demokratien und damit einher geht auch ein Strukturwandel der Zivilgesellschaft."
In den ersten Jahren der politischen Wende in Südosteuropa nach 1990 sei die Zivilgesellschaft Teil der "Heilserwartungen" gewesen. Diese Erwartungen hätten sich freilich weder politisch noch wirtschaftlich erfüllt. Dzihic sprach von einem latenten Potenzial an Wut, Zorn und Frustration, das sich mitunter dann auch in großen Protesten entladen könne, wie dies zuletzt etwa in Bulgarien, Serbien oder Montenegro der Fall gewesen sei. Daran werde sich auch nichts ändern, solange die Kluft zwischen Arm und Reich immer mehr auseinandergehe.
Manchmal komme es im Zuge dieser Proteste dann auch zu politischen Wechseln, wie etwa in Montenegro, in Nordmazedonien oder auch nur auf regionaler oder lokale Ebene. Freilich bleibe offen, ob damit auch positive Veränderungen einhergehen würden. Der Politologe sprach von einer "Zeit der Unvorhersehbarkeit". Vorsichtige Hoffnungen setzte er in die junge und gut ausgebildete Generation.
Wo bleiben die Kirchen?
Die Kirche spiele jedenfalls bei diesen möglichen politischen Reformprozessen keine tragende Rolle, befand Prof. Benedek. Die Verantwortlichen sähen die Kirche eher als herrschaftslegitimierende Kraft und nicht als Teil der Zivilgesellschaft.
Den Kirchen und Religionsgemeinschaften in Südosteuropa stehe demnach in dieser Beziehung auch noch der Prozess der Aufklärung bevor, so die Experten übereinstimmend. Prof. Bremer brachte es so auf den Punkt: "Solange es keine Trennung von Staat und Kirche gibt, kann die Kirche auch nicht Teil der Zivilgesellschaft sein."
PRO ORIENTE setzt Initiativen
Veranstalter der Tagung waren die Kommission für Südosteuropäische Geschichte der Stiftung PRO ORIENTE, das Zentrum für Südosteuropastudien der Universität Graz und das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. Die Moderation des vierten Tagungsteiles hatte der Grazer Historiker Prof. Harald Heppner inne. Er ist auch Leiter der PR ORIENTE-Kommission für südosteuropäische Geschichte. Heppner brachte u.a. in den von zahlreichen Problemen und Herausforderungen gespickten Südosteuropa-Befund der Experten ein, dass die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sowie politische Reformen immer ein längerer Prozess seien. Der Zerfall Jugoslawiens und die folgende Kriegserfahrungen würden jedenfalls "für einige Jahrzehnte an Neurosen ausreichen", so Heppner.
PRO ORIENTE-Präsident Alfons M. Kloss plädierte zum Abschluss der Tagung an die Kirchen wie die Zivilgesellschaft, einen Schritt aufeinander zuzumachen. In diesem Sinne wolle PRO ORIENTE bzw. vor allem die Kommission für Südosteuropäische Geschichte Initiativen setzen bzw. Foren schaffen, die zur Überwindung der bei der Tagung skizzierten Kluft beitragen könnten. Besonders wichtig sei ihm, so Kloss, dass dieser Dialog möglichst nahe an der Basis geführt werde.
Die von PRO ORIENTE 1996 eingerichtete Kommission für südosteuropäische Geschichte ist eine interdisziplinär und interreligiös zusammengesetzte Kommission. Sie versucht, durch Aufarbeitung der gemeinsam erlebten, aber verschieden interpretierten Geschichte Südosteuropas Versöhnung und Frieden zwischen den Völkern und Religionsgemeinschaften zu stiften.
Infos zur Tagung: https://religion-und-zivilgesellschaft.info