Theologe zu Missbrauch: "Toxischen Kern" der Kirche überwinden
Die Sakralisierung von Ämtern und Strukturen, das Ehrfurchtsgefühl vieler Gläubiger gegenüber Amtsträgern, das Fehlen einer echten Gewaltenteilung und die Loyalität innerhalb eines geschlechtshomogenen Klerus - all das sind laut dem Schweizer Theologen Daniel Bogner Strukturelemente in der Kirche, die Missbrauch begünstigen. Der Professor für Moraltheologie und Ethik an der Universität Fribourg beschrieb auf dem theologischen Internet-Portal "feinschwarz.net" unter dem provokanten Titel "Diese Kirche tötet" deren "toxischen Kern". Immer neue Enthüllungen von Missbrauch ließen die Glaubwürdigkeit der Kirche erodieren, so Bogner. Es seien nicht nur Einzeltaten, sondern ein ganzes System des Versagens, das es in den Blick zu nehmen gelte und das zu grundlegenden Veränderungen führen müsse.
Das Schweizer Mitglied der in Österreich beheimateten Redaktion von "feinschwarz" legte seine Aufsehen erregende Analyse außer auf Deutsch auch in italienischer Sprache (auf www.settimananews.it), auf Englisch ("A Church That Kills", feinschwarz.net) und gekürzt auf Französisch bei "esprit.presse.fr" vor. Und für Juni ist das im Verlag Herder erscheinende Buch Bogners "Ihr macht uns die Kirche kaputt...doch wir lassen das nicht zu!" angekündigt.
Der Moraltheologe nahm die auf "Arte" ausgestrahlte Dokumentation "Gottes missbrauchte Dienerinnen" und die Beiträge von Doris Wagner (mit der Kardinal Christoph Schönborn im Bayerischen Rundfunk ein viel beachtetes Gespräch vor laufenden Kameras führte) zum Anlass für die Feststellung: "Es gibt offenbar Strukturen des Bösen in der Kirche und kraft der Kirche." Der Missbrauch von Ordensfrauen durch Priester oder "kirchlich getragene Zuhälterei, inklusive des Zwangs zur Abtreibung" seien Ereignisse im Zentrum der katholischen Kirche. "Praktiziert, geduldet, zugelassen, beschwiegen von den treuesten ihrer Amtsträger und Leitungsverantwortlichen", wie Bogner schrieb.
Nicht nur Kirchenführer haben versagt
Durch derartige "Unsäglichkeiten" seien natürlich in erster Linie die Kirchenführer angesprochen, die die formelle und institutionelle Verantwortung tragen. "Sie sind es, die zunächst 'liefern' müssen", forderte Bogner. Zugleich fügte er hinzu: "Wir alle sind mitverantwortlich für die heutige Lage und das, was nun wird." Der Theologe nannte das allzu willfährige Kirchenvolk als allzu lange nur "treue Herde", aber auch die Theologie, die "sich lieber auf alle möglichen intellektuellen Einladungen zu echtem Austausch einließ, anstatt sich dem Augiasstall auf der eigenen Scholle zu widmen".
Als "toxische Kern der Kirche" bezeichnete Daniel Bogner ein "Netz aufeinander bezogener Haltungen und Prägungen", das als Konglomerat aus Lehre und Praxis in der Summe eine "vergiftende und in bestimmten Lagen tödliche Wirkung" entfalte. Er nannte die "sakralisierte Hülle" der Kirche - Ämterrollen und Strukturen, die im Laufe der Kirchengeschichte eine Patina angesetzt hätten; die Haltung der Ehrfurcht im Kirchenvolk; der "nahezu vollständige Ausfall verbindlicher Kontrolle" als Frucht verweigerter Gewaltenteilung; weiters ein geschlechtshomogener Klerus als "religiöses männerbündisches System" mit Abschottungsmechanismen nach außen hin und die "Selbstbestätigungslogik von 'Tradition'" mit dem stillen Einverständnis darüber, "dass es doch gut ist so, wie es ist".
Keines dieser Elemente führt laut Bogner - für sich allein genommen - in direkter Weise zu missbräuchlichem Verhalten.
Aber im Zusammenspiel gedeiht eine kirchliche Binnenkultur, die man als Gelegenheitsstruktur für Missbrauch bezeichnen muss: Ein mit 'Heiligkeit' überlasteter Handlungsraum führt zu Überforderung der per Existenzentscheidung wechselseitig verpflichteten Akteure, deren Versagen systemisch nicht vorgesehen ist und deshalb vertuscht werden muss.
Alle Menschen brauchen Kontrolle
Männer mit einer Tendenz zur Pädophilie oder zur Grenzüberschreitung könnten in so einem System leicht zu Tätern werden, wies Bogner hin. Zugleich seien sie - ohne ihr Handeln zu entschuldigen - "dann selbst Opfer dieses toxischen Kerns der Kirche". Kirche biete eine Kultur, "die keine Grenzen zieht, die dafür sorgen, dass bestimmte Veranlagungen nicht zur Anwendung gelangen können". Der Ethiker weiter:
Darauf aber sind wir alle - bei der Abgründigkeit der Veranlagungen, die in uns schlummern - angewiesen: dass in Staat und Gesellschaft Mechanismen der formalen Kontrolle und der informellen Sozialkontrolle herrschen, die uns helfen, nicht zu Täterinnen und Tätern zu werden.
Genau hier versage die Kirche als eine Organisation, "die ein gestörtes Verhältnis zu transparenter Kommunikation, öffentlicher Kritik, demokratischer Rechenschaftspflichtigkeit und Geschlechterdiversität hat".
Als notwendige nächste Schritte sieht Bogner Konsequenzen ziehende Überlegungen darüber, was Gewaltenteilung in einem Glauben bedeutet, "der davon ausgeht, die in Christus anbrechende Gottesherrschaft und die Heilswirksamkeit des Glaubens über ein sakramentales Rollenmuster (das geweihte Amt) darstellen zu können". Wichtig wäre es, den grundsätzlichen Abstand des Repräsentierenden zum Repräsentierten deutlicher zum Ausdruck zu bringen - auch in der Organisationsgestalt der Kirche.
Der toxische Kern der Kirche bilde auch das Zentrum der gegenwärtigen Kirchenkrise. "Diese Kirche fühlt sich für viele Menschen vergiftet an", stellte Bogner fest. Und ihre Krise manifestiere sich auf zahlreichen Feldern. Welches Thema aus der innerkirchlichen Reformdebatte man sich auch herausgreift - sei es Geschlechterverhältnis, Laienbeteiligung, Gemeindezusammenlegungen oder Priester-Burnout - man werde früher oder später auf die beschriebenen Strukturelemente stoßen, so Bogner. Der Missbrauch sei dasjenige Feld mit den sichtbarsten und den wohl am tiefsten verletzten Opfern. Der Moraltheologe:
Solange die Kettenreaktionen, die dieser Glutkern immer wieder hervorbringt, nicht gestoppt werden, produziert Kirche fortlaufend Opfer, auf unterschiedlichen Feldern.
Quelle: kathpress