Experten: Medizin braucht heilsame Nähe und professionelle Distanz
Krankheit, Leiden und Sterben: Viele Situationen in Medizin und Pflege können die dort Beschäftigten in "moralischen Stress" bringen, für dessen Aushalten es starke Teams und eine fürsorgliche Führung braucht. Das hat ein vom Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) veranstaltetes Symposium in Wien aufgezeigt. Bei der Tagung "Krisen. Emotionen. Lösungen. Konflikte am Krankenbett" vergangenen Freitag gaben namhafte Experten theoretische und gesellschaftliche Analysen sowie auch ganz praktische Tipps, wie man mit Konflikten mit Patienten und auch Kollegen konstruktiv umgehen kann.
Besonders um Resilienz drehten sich die Beiträge - um die Fähigkeit, Belastungen abzufedern und nicht zum ungesunden Stress werden zu lassen. Entscheidend dafür sei es, mit den moralischen wie praktischen "Stressoren" zu interagieren und durch diese wachsen zu können, und zwar auf persönlicher Ebene wie auch im Team, legte Andreas Heller, Professor für Palliative Care und Organisationsethik an der Grazer Karl-Franzens-Universität, dar.
Die Lösung dafür sei nicht einfach eine "professionell" emotionale Distanz gegenüber den Patienten, betonte Heller. Gerade in der Palliativpflege oder bei besonders emotionalen Fällen seien nämlich die physische Präsenz sowie Mitleid und Mitgefühl genauso essenziell wie die medizinische Versorgung und ermöglichten erst empathische Betreuung. Dennoch brauche Fürsorge auch Selbstsorge: Andere zu lieben, um sich um andere zu sorgen, setzt voraus, dass man sich um sich selbst sorgt und sich selbst liebt, so der Theologe.
Was die Seele nährt
Von friedensstiftenden "Nahrungsmitteln der Seele" sprach der Sozialethiker Clemens Sedmak. Sie seien hilfreich für den Aufbau von persönlicher Resilienz, eigene Gefühle zu verstehen und sich konkrete "Oasen der Integrität" zu schaffen. Unterstützend für Integrität im Arbeitsalltag seien dabei Werte wie Schönheit, Freundschaft, Ruhe oder auch das Gebet, so der an der University of Notre Dame (USA) lehrende Theologe und Philosoph.
Emotionen sollten als positive Ressource gesehen und Chancen im Konfliktmanagement erkannt werden, riet die Wiener Psychologin und Psychotherapeutin Helga Kernstock-Redl in Bezug auf zwischenmenschliche Konflikte. "Nicht alle Konflikte sind veränderbar, aber alle haben mit Gefühlen zu tun", so die Expertin. Um Konflikte zu bewältigen, müsse man lernen, die eigenen Gefühle zu regulieren und sich Gewohnheiten der "Selbstberuhigung" anzueignen.
Team als Schutzfaktor
"Um Stresssituationen auszuhalten, brauchen die Mitarbeiter ihr Team und die Erfahrung, dass sie etwas Sinnvolles tun", erklärte die Barbara Juen, Psychologin an der Universität Innsbruck, deren Ausführungen sich um die "Systemresilienz" drehten. Hauptaufgabe der Führungskräfte sei es, fürsorglich zu sein, Störung rechtzeitig zu erkennen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Dabei müsse man laut Juen auf die "Widerstandsfähigkeit, Erholungsfähigkeit und Wachstumsfähigkeit des Teams" fokussieren.
Stressfaktoren können erst dann verstanden und vorgebeugt werden, wenn sie adäquat definiert und kategorisiert sind, unterstrich die Münchner Psychologin und Medizinethikerin Katja Kühlmeyer. So kann etwa ein Auslöser von moralischem Stress sein, dass sich jüngere Ärzte oder Pflegende mit "unangemessen Erwartungen" konfrontiert sehen. Sie empfänden sich alleine gelassen mit Situationen, denen sie sich nicht aufgrund mangelnder Erfahrung oder fehlender Unterstützung durch die Führung nicht gewachsen fühlten. Hier entstünden Barrieren, die das ethische Handeln des Einzelnen erschweren oder verhindern können.
Das Fördern von Reflexion - persönlich und im Team - wurde beim Symposium als ein zentraler Weg für einen gestärkten Umgang mit emotionalen und ethisch schwierigen Situationen dargestellt. Jürgen Wallner, Leiter des Ethik-Bereichs bei den Barmherzigen Brüder Österreich, zog hier einen Vergleich zur Ethikberatung, in der "Hirn, Herz und Hand in Krisensituationen eingeschaltet werden müssen". Reflexionsräume seien nötig, um kritisch über ethisch relevante Fragen nachzudenken. Dabei dürfe jedoch die Emotionalität der Situation nicht vernachlässigen werden. Schließlich müsse Beratung dazu führen, "handlungsfähig zu machen".
"Authentische Beziehungen"
Einblicke in Krisen und emotionale Konflikte im Alltag von Gesundheitsfachkräften gewährte Martina Kronberger-Vollnhofer vom Wiener Kinderhospiz MOMO. Bei der Begleitung von schwerkranken Kindern und ihren Familien sei es unabkömmlich, sich auf eine authentische Beziehung mit dem Kind und vor allem mit den gesunden Geschwistern, den Eltern und den Angehörigen einzulassen, betonte die Kinderärztin. Eine gewisse Verletzlichkeit der Gesundheitsfachkräfte sei notwendig, um die vulnerablen Gefühle der Familie zu ehren und annehmen zu können. "Hilfreicher Nähe und heilsame Distanz ist dabei ein dynamischer Prozess. Da muss man die Balance finden", so die Expertin. Der Zusammenhalt im Team sei zudem ganz entscheidend, um "gemeinsam die Machtlosigkeit aushalten" zu können.
Vom Umgang mit Suizidwünschen älterer Menschen sprach Erwin Horst Pilgram vom Grazer Albert Schweitzer Hospiz. Die Antwort darauf sei nicht Beihilfe zum Suizid, betonte der Experte, der zudem daran erinnerte, dass einem Sterbewunsch sehr häufig eine Depression zugrunde liege. Wichtig sei es, Menschen mit Suizidverlangen beizustehen und durch Gespräche ihren Nöten Raum und Zeit zu geben. Das Simple, das Menschliche und vor allem auch der Humor dürfe vor lauter Krise nicht aus den Augen verloren werden - zum Wohle sowohl der Patienten als auch der Stimmung, die die Betreuung prägt, besonders aber auch des Betreuungsteams und deren Resilienz.
(Der Tagungsband "Krisen. Emotionen. Lösungen. Konflikte am Krankenbett " erscheint im Frühjahr 2023. Bestellt werden kann er über den Link https://www.imabe.org/publikationen/imago-hominis-bestellen)
Quelle: kathpress