Köhlmeier: "'Der werfe den ersten Stein' berührt mich zutiefst"
Als eine "Stelle, die zum schönsten gehört, was Literatur je hervorgebracht hat", erachtet Erfolgsautor Michael Köhlmeier die Erzählung im Johannesevangelium über Jesus und die Ehebrecherin. Die Pharisäer wollen Jesus damit in Verlegenheit bringen: Sein Ja oder Nein zur vorgesehenen Strafe der Steinigung würde ihn vor aller Welt zu einem gesetzesbrechenden Libertin oder aber zu einem von den Schriftgelehrten nicht Unterscheidbaren machen. Jesu Lösung, dem Gesetz solle Genüge getan werden, "und wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein", ist für Köhlmeier "ein Satz, der mich jedes Mal so berührt, dass ich einen Knoten im Hals kriege" - wegen der beispiellosen, "unglaublichen Konfliktlösungsfähigkeit" von Jesus.
Es gebe zahlreiche vergleichbare Stellen aus dem Alten und Neuen Testament, wies der aus Vorarlberg stammende Schriftsteller bei einem Pressegespräch im Vorfeld seiner Poetik-Vorlesung an der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät hin. Köhlmeier erzählte mehrfach Bibelgeschichten in eigenen Werken oder Hörbüchern nach; er sei diesbezüglich geprägt von seiner Mutter, die ihm schon in jungen Jahren die Heilige Schrift nahegebracht hätten, wie er berichtete. Besonders berührt und "erschüttert" habe ihn sein ganzes Leben lang die Hiob-Erzählung. Was dieser Gestalt aus dem Alten Testament zustieß - die Kinder gestorben, der ganze Besitz verloren -, sei "grauenhaft", so Köhlmeier. Dass dies aber Folge einer Wette Gottes mit dem Teufel war, fand er geradezu "herzzerreißend furchtbar" und habe ihn zur Frage geführt, wie er sich auf so einen letztlich "eitlen" Gott je verlassen könne, der Hiob zum Schluss eine fragwürdige "Wiedergutmachung" zugesteht.
So eine Geschichte und die dort aufgeworfene Frage, ob die Verteilung von Glück und Unglück etwas vollkommen Willkürliches ist, werde Menschen berühren, so lange die Menschheit besteht, meinte Köhlmeier. Seiner Einschätzung nach sprechen Erzählungen aus Bibel oder Mythologie, "die eine gewisse Zerrissenheit darstellen", heute besonders an. Viele Zeitgenossen seien heute geradezu "süchtig" danach, interessant sei nur das, "was einem das Herz zerreißt, wo man im Zweifel ist, wo man mit sich kämpft". Wer sich heute an eine "Idylle" halte - ob als Produzent oder Konsument von Literatur - gerate "in Verdacht, dumm zu sein". Das finde er schade, sagte Köhlmeier, obwohl er sich selber den "Mut" wünschte, z.B. eine "ganz brave Weihnachtsidylle" zu schreiben. Das wäre "schon fast wieder subversiv".
"Sagt uns das heute noch etwas?"
Zweifel äußerte der Schriftsteller darüber, ob man auch mit der größten historischen Einfühlung wirklich nachvollziehen könne, was etwa die Propheten oder antike Mythenvermittler gemeint und empfunden hätten. "Wir haben keine Ahnung, wie die damals getickt haben." Letztlich gehe es immer um die Frage: "Sagt uns das heute noch etwas?"
Und die Antwort darauf ist laut Köhlmeier zeitgeistgebunden: Homers Ilias z.B. habe bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als dessen größtes Epos gegolten, die Odyssee dagegen als zweitrangig. In der Ilias ging es um die gekränkte Ehre des Achill, der sich weigert, weiter am Krieg gegen Troja teilzunehmen. Dieses Thema sei heute passé, ganz im Unterschied zu jenem des "innerlich zerrissenen" Odysseus, der gar nicht in den Krieg ziehen wollte, nach dessen Ende rasch nach Hause zu Frau und Kind, in seiner Sehnsucht aber immer wieder gehemmt jedoch durch seine "sexuelle Obsession" Frauen gegenüber - "so einen Mann verstehen wir heute", sagte Köhlmeier. Was nicht heiße, dass dies auch in einigen Jahrzehnten noch der Fall ist oder die Odyssee nicht - wie viele andere gute Geschichten - in Vergessenheit gerate.
Auf die Frage, was ihn daran gereizt habe, an einer Theologischen Fakultät eine Poetik-Vorlesung zu halten, antwortete der Schriftsteller: Man komme während der literarischen Arbeit kaum dazu, sich darüber Gedanken zu machen, dies wolle er nun im universitären Kontext tun. Und dies bei den Theologen und nicht bei den Germanisten zu tun, finde er passend, weil erstere "dafür bekannt sind, das Rätsel in der Welt standhaft zu verteidigen". Als ehemaliger Germanist dagegen sei er dahingehend geschult worden, dem kreativen Prozess das Rätselhafte zu nehmen, was ihn sogar an seinem Berufswunsch Schriftsteller habe zweifeln lassen. Er sehe sich selbst als "kein so fest im Glauben verankerter Mensch", "Gott" oder "das Göttliche" sehe er als Metapher für dieses Rätselhafte und dessen Zauber.
Michael Köhlmeier, zuletzt Autor der Novelle "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet" über den heiligen Antonius von Padua, hält am 24. Oktober um 18.30 Uhr im Hörsaal 47 der Universität Wien eine Vorlesung mit dem Titel "Satan und Madonna - ein Plot". Sein Augenmerk liegt dabei - wie er ankündigte - auf der Nähe von Gut und Böse in den Grimm-Märchen "Das Mädchen ohne Hände" und "Marienkind". (Infos: www.poetikdozentur.at)
Quelle: kathpress