
Tück begrüßt Papst-Schreiben
"Dilexi te - ich habe dich geliebt"
Tück begrüßt Papst-Schreiben
"Dilexi te - ich habe dich geliebt"
Ein STAND.PUNKT von Jan-Heiner Tück
Lange war es erwartet worden, das erste Schreiben von Papst Leo XIV. Jetzt liegt es vor. Es handelt sich um eine „Apostolische Exhortation“ – ein literarisches Genus, das in der Hierarchie päpstlicher Dokumente nach Konstitutionen und Enzykliken die dritthöchste Rangstufe einnimmt. Der Titel des Mahnschreibens lautet "Dilexi te – ich habe dich geliebt". Speziell geht es um die "Liebe zu den Armen". Der Titel spielt auf die letzte Enzyklika von Papst Franziskus Dilexit nos (2024) an, die der Herz-Jesu-Verehrung gewidmet war. Leo greift das unvollendete Erbe seines Vorgängers auf und führt es mit eigenen Akzenten weiter.
Armut hat viele Gesichter. Sie kann materielle Not, soziale Ausgrenzung, digitale Stigmatisierung, aber auch Vereinsamung im Alter bedeuten. Statt mit geschlossenen Augen am vielgestaltigen Leid vorbeizugehen, ist es der Kirche aufgetragen, an der Seite der Armen zu stehen und ihre Not zu lindern. Das wird von Leo – systematisch betrachtet – unter mindestens fünf Gesichtspunkten entfaltet.

Prof. Jan-Heiner Tück, Universität Wien
Gott bleibt nicht apathisch im Angesicht von Not
Zunächst wird (1) israeltheologisch betont, dass Gott den Schrei des armen Volkes in Ägypten "hörte", dass er das Elend der Unterdrückten "sah". Gott bleibt nicht apathisch, er lässt sich von der Not affizieren – und handelt. Das steht am Beginn des Exodus-Narrativs, das an die Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten erinnert und für Juden und Christen gleichermaßen zentral ist. Auch die Propheten fordern die Aufmerksamkeit für die Armen und üben Sozialkritik, wenn die Reichen faul in ihren Sesseln liegen, während die Armen ausgebeutet werden.
Leo XIV. erinnert (2) christologisch an den Weg Jesu. Die Wehrlosigkeit in der Krippe, die Herkunft aus einer armen Handwerkerfamilie, die Nähe zu den Sündern und Armen – die Sinnrichtung des Lebens und Sterbens Jesu weist insgesamt nach unten: "Er, der reich war, ist arm geworden, damit die Armen reich werden", zitiert Leo den Apostel Paulus. Dieser Weg der Entäußerung ist ein Akt der Barmherzigkeit mit den Armen, eine Manifestation der Solidarität mit den Entrechteten.
Nächstenliebe ist Bewährung der Gottesliebe
Die Gemeinschaft mit Jesus aber kann nicht folgenlos sein, aus ihr ergeben sich (3) ethische Weisungen. Das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe, das Jesus der Tora entnimmt, ist hier leitend. Der karitative Einsatz für die Leidenden und Entrechteten ist für Leo Ausdruck und Bewährung der Gottesliebe. Das tangiert (4) das Verständnis der Kirche: Wenn Gläubige, die im Wohlstand leben, ihre Brüder und Schwestern in Armut ignorieren, dann gibt es Risse in der kirchlichen Communio. Man kann nicht die memoria passionis in Gestalt des gebrochenen Brotes feiern und die Leidenden draußen vergessen und hungern lassen, das widerspricht dem Evangelium.
Man kann nicht die memoria passionis in Gestalt des gebrochenen Brotes feiern und die Leidenden draußen vergessen und hungern lassen, das widerspricht dem Evangelium.
Schließlich ist die Liebe zu den Armen (5) eschatologisch virulent. Die Gerichtsparabel im Matthäus-Evangelium zeigt, dass das Verhalten gegenüber den Notleidenden ein Spiegel der Christus-Beziehung ist, der sich mit ihnen identifiziert hat. "Armut ist keine soziologische Kategorie, sondern Fleisch Christi." Christus ist nicht die Inkarnation der Gleichgültigkeit, sondern der Liebe, die am Ende der Tage jeden befragen wird, wie er es mit den Werken der Barmherzigkeit gehalten hat.
Christus ist nicht die Inkarnation der Gleichgültigkeit, sondern der Liebe, die am Ende der Tage jeden befragen wird, wie er es mit den Werken der Barmherzigkeit gehalten hat.
Leo XIV. zeigt, dass der Weg der Kirche in den vergangenen 2000 Jahren ein Weg mit den Armen war. Er lässt den Reichtum der biblischen Überlieferung sprechen und bietet das vielstimmige Zeugnis der Kirchenväter auf. Augustinus, der im Armen ein "Sakrament der Gegenwart Christi" sieht, wird ebenso genannt wie Chrysostomus, der den "Luxus der Reichen" anprangert und in der Metropole Konstantinopel soziale Gerechtigkeit predigt. Was Kritiker des Christentums notorisch unterbelichten: die Kultur der Gastfreundschaft, die Pflege der Kranken, die Sorge um die Armen, der Dienst an den Gefangenen und die Unterweisung der Bedürftigen durch Ordensgemeinschaften, das wird von Leo angeführt wie das Engagement für Migranten und Deklassierte heute. Mutter Teresa, die auf den Straßen Kalkuttas Kranke und Sterbende versorgt hat, erscheint als leuchtendes Vorbild.
"Diktatur einer Wirtschaft, die tötet"
Die "vorrangige Option für die Armen" – ein Motiv, das aus der lateinamerikanischen Bischofskonferenz stammt – wird von Leo bejaht, ohne dass er eine kritische Auseinandersetzung mit der Marx-Rezeption der Befreiungstheologie noch für nötig hielte, die in den 1980er Jahren in Rom für einige Unruhe gesorgt hat. Die kirchliche Soziallehre hat im 19. Jahrhundert die prekäre Situation des Industrieproletariats thematisiert, sie ist im 20. Jahrhundert kontinuierlich fortgeschrieben worden. Im Blick auf die wachsende Schere zwischen Arm und Reich greift Leo die unter Ökonomen als unterkomplex eingestufte Rede von der "Diktatur einer Wirtschaft, die tötet" (Franziskus) auf. Warum stellt er nicht klar heraus, dass die Marktwirtschaft überhaupt erst die Bedingungen geschaffen hat, das globale Problem der Armut zu lösen, und votiert für eine soziale Marktwirtschaft, wie das Papst Johannes Paul II. in "Centesimus annus" (1991) getan hat? Bei der Bekämpfung der Armut, das schärft "Dilexi te" neu ein, sind neben wirtschaftlichen auch politische, soziale und ökologische Gesichtspunkte zu beachten.
Das Schreiben, das in den Schlusspassagen sehr viel Papst Franziskus zitiert, greift Anliegen der Befreiungstheologie auf, die den "Schrei der Armen" hörbar machen und Praktiken der Solidarität anstoßen will. Durch die Betonung, dass die Armen Subjekte sind, ist auch eine Nähe zur neuen politischen Theologie gegeben, die das Prinzip der "Subjektwerdung aller vor Gott" gegen Formen einer systematischen Entwürdigung geltend macht und für eine "Mystik der offenen Augen" votiert.
Bemerkenswert ist eine Leerstelle. Der aus dem Augustinerorden stammende Leo geht nicht auf die Denkfigur des "Ordo amoris" ein, die der hl. Augustinus entwickelt hat. Dieses Konzept von Liebe, das unterschiedliche Grade der Zuwendung kennt und von manchen als realitätsgerechtere Alternative zum christlichen Universalismus empfohlen wird, kommt in "Dilexi te" nicht vor – wohl auch deshalb, weil es zur theologischen Rechtfertigung einer harten Migrationspolitik herangezogen wird, die Migranten von der Straße weg verhaftet, sie in Sammellager verfrachtet, um sie dann abzuschieben. Als Kardinal hatte Robert Prevost dem Vize-Präsidenten der USA, JD Vance, klar widersprochen, der die Ausweisung illegaler Einwanderer unter Rückgriff auf das Konzept des Ordo Amoris verteidigt hat. Als Brückenbauer und Papst hat Leo der Versuchung widerstanden, sich als Anti-Trump zu positionieren. Seine Mahnung zur "Liebe zu den Armen" aber wird man nicht überhören können. In den USA nicht und hierzulande auch nicht.
Zum Autor:
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück lehrt Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.