Zulehner: Europas Kirchen im Ringen um Freiheit und Gerechtigkeit
Weder das Kirchenvolk noch die Kirchenleitungen im postkommunistischen Ost- und Mitteleuropa waren auf die im Wendejahr 1989 überraschend erlangte Freiheit vorbereitet. Wie der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner am Donnerstag in Cluj-Napoca (Rumänien) darlegte, ist der Titel eines 1993 durchgeführten Symposiums europäischer Bischöfe bis heute "demokratiepolitisch aktuell": "Das Evangelium leben in Freiheit und Solidarität". Dazu nach Prag eingeladen hatte der damalige Präsident des Rates der europäischen Bischofskonferenzen (CCEE), Kardinal Miloslav Vlk, dessen Berater Zulehner damals war. Der knapp 80-jährige renommierte Theologe äußerte sich auch bei einem Symposium, das ihm zu Ehren an der Universität von Cluj stattfand. Zulehner wurde dabei ein Ehrendoktorat verliehen.
1989 seien Osteuropas Länder nach mehr als 40 Jahren Totalität frei geworden, blickte Zulehner in seinem Festvortrag auf eine "gewaltige gesellschaftspolitische Transformation" zurück. Die Bevormundung durch die Sowjetunion hatte viele Menschen zu willfährigen "homini sovjetici" gemacht, die Kirchen waren aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit weithin verschwunden - ungeachtet einzelner Basisgemeinden wie der Bokor-Bewegung in Ungarn. Freiheit war zwar errungen worden, so Zulehner, "aber sie war zugleich immer auch bedroht: und das bis heute". Es gebe in einigen europäischen Ländern den Trend, demokratische Errungenschaften wieder abzubauen. Als Beispiel nannte der Wiener Werteforscher die "illiberale Demokratie" - ein erklärtes Ziel des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban.
Die Kirchen müssten dem Widerstand entgegensetzen, sagte Zulehner im Rahmen des Symposiums mit dem Titel "Papst Franziskus und die Pastoraltheologie in Ost(Mittel)Europa. Bestandsaufnahme und Entwicklungsmöglichkeiten 30 Jahre nach der Wende". Der argentinische Papst habe die Kirchen Europas - in West und Ost - dazu ermutigt, als "Kirchen der gottgegebenen verantwortungsbewussten Freiheit" auch gesellschaftlich Anwältinnen der Freiheit zu sein, erinnerte der Theologe an die Franziskus-Reden im Jahr 2014 vor dem Europarat und dem Europäischen Parlament. "Gestützt auf die eigenen Soziallehren, schützen die Kirchen die Würde und Unantastbarkeit jeder Person und ihrer individuellen und sozialen Menschenrechte", betonte Zulehner im Anschluss an den Papst.
Neoliberalem Kapitalismus widerstehen
Aber auch um Solidarität, um Gerechtigkeit müsse immer wieder neu gerungen werden, so der Theologe weiter. Durch den Fall der Kommunismus sei es zu einem "ungebremsten globalen Siegeszug eines neoliberal konzipierten Kapitalismus" gekommen. Dazu habe Papst Franziskus in seiner Antrittsenzyklika "Evangelii gaudium" 2013 geschrieben: "Diese Wirtschaft tötet!" Denn sie diene nicht mehr dem Menschen, sondern der Mehrung des Gewinns: "Aktienkurse steigen, wenn Menschen entlassen werden", beschrieb Zulehner neoliberale Auswüchse.
Eine neue Herausforderung sei die heutige, von Informatisierung, Digitalisierung und Roboterisierung geprägte "Wirtschaft 4.0", in der Maschinen immer mehr die arbeitenden Menschen ersetzten und eine Entsorgungsmentalität um sich greife. Zulehner dazu: "Die christlichen Kirchen haben, zusammen mit allen Menschen guten Willens, heute den Auftrag, zu Anwältinnen der nationalen, internationalen und globalen Gerechtigkeit zu werden." Dies sei in Europa umso dringlicher, als es derzeit europaweit zu einer Schwächung jener politischer Kräfte komme, die für soziale Gerechtigkeit eintreten.
Freilich: Die Kirchen könnten "diese zwei großen Dienste, Anwältinnen der Freiheit und der Gerechtigkeit zu sein", in den Gesellschaften Europas nur leisten, wenn es ihnen gelinge, viele Menschen für das Evangelium zu gewinnen. Zulehner erinnerte an eine Richtschnur, die der verstorbene Aachener Bischof Klaus Hemmerle einmal "treffgenau" so formuliert hatte: "Wir sind nicht Christen, um in den Himmel zu kommen, sondern dass der Himmel jetzt schon zu uns kommt."
Forschungsnetzwerk "Pastorales Forum"
Am Donnerstagvormittag wurde em. Prof. Paul Zulehner auch das Ehrendoktorat der römisch-katholisch-theologischen Fakultät der Babe-Bolyai Universität von Cluj-Napoca verliehen. Der Geehrte wertete dies nicht nur als eine ihm persönlich zuteil werdende Würdigung, sondern auch als Wertschätzung für das von ihm mit Unterstützung der Kardinäle Franz König und Kardinal Vlk 1989 gegründete "Pastorale Forum" in Wien. Durch dessen Stipendiumprogramm unter dem Motto "Beine nicht Steine" schlossen in drei Jahrzehnten 124 Frauen und Männer, Laien und Priester - darunter 17 Personen alleine aus Rumänien -, in Wien ein Doktorat mit dem Schwerpunkt Pastoraltheologie ab oder habilitierten sich.
In seinen Dankesworten erinnerte sich Zulehner an die Anfänge seines Engagements in und für Osteuropa. Kardinal König - selbst ein Ehrendoktor von Cluj - habe ihn 1984 bei seinem Antrittsbesuch nach der Lehrstuhlübernahme in Wien gebeten, seinen Fokus nicht auf Lateinamerika wie damals die meisten Pastoraltheologen zu richten: "Gehen Sie nach Osteuropa!" Diesem Rat sei er umgehend gefolgt, so Zulehner. Er bot alljährliche Uni-Seminare über ein osteuropäisches Land an und besuchte dieses mit den Studierenden auch. Gemeinsam sei man zu "Zeitzeugen" geworden - in Jugoslawien, dessen Zerfall sich früh abgezeichnet habe, in Lettland zur Zeit der Perestrojka oder in Bukarest, wo die Besucher aus Wien "vom Hotelfenster aus die blutigen Unruhen auf den Straßen beobachten" konnten.
Mit der politischen Wende sei das Interesse der Studierenden an Osteuropa schlagartig erlahmt; Zulehner reagierte mit dem "Pastoralen Forum" und dessen Stipendienfonds sowie der Studie "Aufbruch" über Religion während und nach dem Totalitarismus gemeinsam mit dem Religionssoziologen Miklos Tomka. Er selbst habe methodisch und inhaltlich davon für seine wissenschaftliche Arbeit als Pastoraltheologe sehr viel profitiert, resümierte Zulehner.
"Hybrid-Theologe des 21. Jahrhunderts"
Die Laudatio für den Ehrendoktor hielt die in Rumänien geborene, in Linz lehrende Pastoraltheologin Klara Csiszar. Kein anderer Theologe aus dem deutschsprachigen Raum habe so viel für die Entwicklung der Kirchen in den postkommunistischen Ländern getan, befand sie. Zulehner, der am 20. Dezember sein 80. Lebensjahr vollendet, sei bis heute wissenschaftlich hochproduktiv: Mehr als 100 Monografien, um die 50 Bücher und rund 700 Fachartikeln umfasse sein Oeuvre, nach wie vor halte er an die 100 Vorträge pro Jahr. Csiszar nannte den vielfach Ausgezeichneten einen "Hybrid-Theologen des 21. Jahrhunderts": Er sei tief verwurzelt in der christlichen Tradition und verstehe zugleich die Logik der modernen Welt - "beide liebt er". Es gibt - so die Laudatorin - eine Brücke zwischen Kirche und Welt, "und an dieser Brücke baut Paul Zulehner bis heute prägend mit".
An dem ihm zu Ehren gemeinsam von den der Universitäten Wien und Cluj veranstalteten Symposium sprechen u.a. Schüler, Fachkollegen und Weggefährten des emeritierten Professors, darunter der ungarische Theologe Andras Mate-Toth, seine Nachfolger am Wiener Institut für Pastoraltheologie, Johann Pock und Regina Polak, die in Erfurt lehrende Maria Widl sowie die Gurker Seelsorgeamtsleiterin Anna Hennersperger. Vorträge zu Themen wie Futurologie, Frauen in der Kirche oer 30 Jahre Wende stehen auf dem Programm.
Quelle: kathpress