Zulehner: Glaube an Leben nach dem Tod prägt auch Politik-Sicht
Ob jemand glaubt, dass mit dem Tod alles aus oder dieser ein Übergang in eine andere Existenzweise ist, hat auch politische Auswirkungen. Darauf hat der Wiener Theologe, Religionssoziologe und Werteforscher Paul Zulehner hingewiesen. In seinem Beitrag für das kürzlich herausgegebene "Österreichische Jahrbuch für Politik 2019" unterscheidet er je nach dieser Weltsicht zwischen "Sterblichen" und "Unsterblichen" mit einer säkular "engen" oder aber religiös "weiten" Wirklichkeitskonstruktion. Bezogen auf die Parteipräferenz der im Rahmen der Langzeitstudie "Religion im Leben der Österreicher*innen 1970-2020" Befragten zeige sich: ÖVP-Sympathisanten sind am offensten für Transzendenz, während die Grünen die größte "Transzendenzarmut" aufwiesen, so Zulehner.
Just jene Parteien bildeten somit derzeit eine Regierungskoalition, "deren Sympathisant/innen in höchst unterschiedlichen 'Wirklichkeiten" wohnen". Wobei, wie Zulehner als "überraschend" anmerkte, hier die "Kluft" zwischen ÖVP-Anhängern einerseits und FPÖ- sowie Grün-Sympathisanten andererseits ähnlich groß ist. Die Daten belegten, dass sich Grüne und Blaue in Bezug auf Transzendenzoffenheit "weitaus ähnlicher sind, als die Programme dieser beiden Parteien"; auch die NEOS haben damit überwiegend nichts am Hut. Zweitstärkste Partei, was die "weite Wirklichkeit" ihrer Anhänger anbelangt, ist laut der Zulehner-Studie die SPÖ.
Die Weltsicht einer "weiten Wirklichkeit" bedeutet, seine Lebensglück-Erwartungen nicht auf die durchschnittlich 80 irdischen Lebensjahre zu beschränken. Menschen mit Diesseitsgrenzen überschreitenden Überzeugungen sind tendenziell solidarischer, wie der Religionssoziologe anhand der Zustimmung zu Sätzen wie "Einkommensunterschiede sollten verringert werden" oder "Das Wichtigste, was Kinder lernen müssen, ist das Teilen" interpretiert. Die Befragten mit "enger" Wirklichkeitsreichweite seien in Gefahr, die anderen - Nachbarn, Fremde, Migranten - als Rivalen ihres erstrebten maßlosen Glücks in begrenzter Lebenszeit zu betrachten, erklärte Zulehner. In dieser Gruppe seien somit "deutlich mehr sehr Unsolidarische (25 Prozent) als unter den 'Weiten' anzutreffen".
Politik könnte solidarischer sein
Aber auch bei den "Engen" seien insgesamt 75 Prozent als "sehr solidarisch" oder "solidarisch" einzustufen - bei den "Weiten" gar 89 Prozent. "Die Politik könnte mit diesem Solidaritätspotenzial viel besser wirtschaften: mit Blick auf die Kinderarmut, die Entwicklungszusammenarbeit, die Flucht vieler vor Umweltkatastrophen, Kriegen und hoffnungslos machender Verarmung", regte der Theologe an.
Auch bei der Haltung zum Islam als "Ernstfall", in dem sich Solidarität zeige, ortet Zulehner Änderungsspielraum. Denn die "Weiten" hätten etwa gegenüber dem Kopftuch als religiöses Symbol deutlich weniger Probleme als die "Engen". Die "realen politischen Positionen" der Parteien zeigten, dass sich darin die Werthaltungen ihrer Sympathisanten nicht unbedingt abbilden. Zulehners kritischer Schlusssatz im Jahrbuch für Politik: "Der Abstand der politischen Repräsentanten zu den sie wählenden Sympathisant/innen erscheint beträchtlich."
Das Österreichisches Jahrbuch für Politik 2019 ist im Böhlau Verlag erschienen, umfasst 540 Seiten und kostet 45 Euro.
Quelle: kathpress