100 Jahre Caritas in Österreich: "Manchen gehen wir auf die Nerven"
"Manchen in der Kirche gehen wir als Caritas auf die Nerven" - und das muss auch so sein, glaubt man den Worten des Leiters der "PfarrCaritas und Nächstenhilfe" der Erzdiözese Wien, Rainald Tippow. Die mit konkreter Nothilfe untrennbar verbundene "Anwaltschaft für die Armen, geschweige denn politischer Einsatz gegen Not führen zu kleinbürgerlichem Hyperventilieren"; die befreiungstheologisch begründete, auch von Papst Franziskus vertretene Option für die Armen "hinterfragt bürgerliche Wohlfühlnischen", schrieb Tippow im Blog der Katholischen Sozialakademie (ksoe) über die Caritas "an der Schwelle zum zweiten Jahrhundert". Anlass für seine Ausführungen sei, dass die organisierte Caritas seit 1920 - also seit 100 Jahren - in ganz Österreich tätig ist. "Leider wird es sie auch im 21. Jahrhundert brauchen", fügte deren langjähriger Mitarbeiter hinzu.
Suppe an Bedürftige ausgeben, das ist für die breite Öffentlichkeit "schon ganz in Ordnung". Bei der Sorge um Menschen mit Behinderung, Begleitung alter und dementer Menschen, Unterbringung Obdachloser, in der Katastrophenhilfe, bei der Essensausgabe in Coronazeiten, da sind die meisten laut Tippow durchaus froh, dass es diese Organisation mit rund 15.000 Hauptamtlichen und 50.000 Freiwilligen gibt. "Ungemach für die Wohlfühlblase" ergebe sich jedoch politisch und kirchlich, sobald sich die Caritas aus dem praktisch-konkreten Tun herausbegibt.
Nothilfe ohne Kritik an Not verursachenden Strukturen greift nach den Worten des Wiener Caritas-Verantwortlichen jedoch zu kurz: "Suppe ausgeben und nicht zugleich den Skandal anzuprangern, dass es in einem der reichsten Länder der Erde noch immer Hunderttausende gibt, für die warm, satt und sauber unerreichbar sind, ist für eine Caritas, die sich selbst ernst nimmt, unannehmbar."
Tippow betreibt hier auch kirchliche Selbstkritik an einer in den Monaten des coronabedingten Ausnahmezustands von ihm beobachteten gefährlichen "Abschottung von der Welt". Manch diözesane Aussendung habe auf liturgische und spirituelle Angebote zur "seelischen Erbauung" fokussiert, "während hunderttausende arbeitslos wurden, sich Schlangen vor den Sozialberatungsstellen bilden, das Ertrinken Flüchtender in der Ägäis aus dem Blick geraten ist, Menschen aus Sorge um die Zukunft nicht mehr schlafen können, das einsame Sterben in Isolation zu Verzweiflung geführt hat, vielerorts Trauer und Angst förmlich zu greifen waren". Ungeachtet des hohen Wertes der Liturgie für viele Gläubige warnte der Caritas-Vertreter: "Eine Kirche, die auf Spiritualität für Spiritualitätsvirtuosen fokussiert, verliert die meisten Menschen aus dem Blick."
Für die Caritas sieht Tippow in deren nächstem Jahrhundert eine dreifache Aufgabe: Zuerst gehe es um das praktische Tun im Dienst bedürftiger Menschen; dazu komme eine zwangsläufig politische Anwaltschaft für die Themen der Leidenden, deren Unterlassung den biblischen Auftrag "bis zur Unerträglichkeit weichspülen" würde. Und schließlich sieht Tippow eine innerkirchliche Aufgabe: "Caritas ist kein Teil von Kirche. Sie ist Wesensausdruck von Kirche... eine caritasvergessene Kirche ist keine Kirche." (Link: https://blog.ksoe.at/an-der-schwelle-zum-zweiten-jahrhundert)
Quelle: kathpress