Covid-19 in Peru: "Schlimmste Krise seit über 100 Jahren"
Peru ist durch die Covid-19-Pandemie in die "schlimmste Krise seit über 100 Jahren" gestürzt und bekommt diese trotz anhaltend strengen Gegenmaßnahmen nicht in den Griff: Das hat der in einer Vorstadt von Lima tätige Priester und Autor Juan Goicochea am Donnerstag im Telefoninterview mit Kathpress geschildert. Der peruanische Comboni-Missionar hat in Innsbruck studiert, war zwischenzeitlich Obdachlosenseelsorger in Nürnberg und wird von einer Waldviertler Initiative unterstützt in seinem Einsatz, welcher derzeit ganz den vom Coronavirus Betroffenen in einem Armenviertel gilt.
Peru hat diese Woche die Marke von 600.000 bestätigten Covid-19-Infektionen überschritten, wobei derzeit 165.000 Personen als aktiv erkrankt gelten - Tendenz weiter steigend. "Die erste Welle der Pandemie ist in Peru noch nicht vorbei", berichtete Goicochea. Mit offiziell 28.001 Corona-Toten ist das Andenland mit seinen 31 Millionen Einwohnern die Nation mit der höchsten Todesrate durch das Coronavirus (derzeit 847 pro einer Million) auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Die Dunkelziffer dürfte jedoch weitaus höher sein: Mitte August bekannte die Regierung, dass die tatsächliche Zahl der an Covid-19 Verstorbenen wohl eher 43.000 beträgt.
Auch diese Schätzung sei zu niedrig angesetzt, befand P. Goicochea. "Sehr wahrscheinlich ist die tatsächliche Zahl der Corona-Toten zwei- bis dreimal höher, starben doch von Jänner bis Juli bereits so viele Peruaner wie im ganzen vergangenen Jahr. Täglich und allerorts sieht man derzeit Menschen an Sauerstoffmangel sterben, ohne jemals auf Corona getestet worden zu sein, teils sogar auf der Straße vor den Kliniken. Da sie nicht mehr aufgenommen werden, versuchten viele Erkrankte gar nicht mehr, ins Spital zu kommen, wodurch sie in keiner Statistik aufscheinen." Hinzu komme, dass im Amazonas-Gebiet ein Großteil der indigenen Bevölkerung infiziert sei, ohne jegliche medizinische Versorgung und auch hier mit vielen Toten.
Der Verlauf der Pandemie erstaunt, galt Peru doch als eines der Länder, die am schnellsten reagierten. Schon eine Woche nach dem ersten bekannten Fall im März startete hier der Lockdown, der ganze 107 Tage dauerte. Der Ausnahmezustand hält an, erneut gilt derzeit in sechs Regionen und 36 Provinzen - somit für ein Drittel der Bevölkerung - die Quarantäne, an Sonntagen sogar ein landesweites Ausgehverbot.
Schonungslose Abrechnung
Warum die Gegenmaßnahmen viel zu wenig greifen, beantwortete Goicochera mit Verweisen auf die peruanische Soziologin Pilar Arroyo:
Einerseits leben Millionen Peruaner in kleinen, überbelegten Häusern ohne Möglichkeit zur Distanz, mehr als sechs Millionen auch ohne Wasseranschluss, was regelmäßiges Händewaschen verunmöglicht. 72 Prozent der Bevölkerung sind im informellen Sektor beschäftigt und nicht sozialversichert. Wenn sie nicht arbeiten, haben ihre Familien nichts zu essen.
Daneben gibt es logistische Probleme wie etwa, dass Sonder-Hilfszahlungen der Regierung zu langen Menschenschlangen bei den Banken und somit zu vielen weiteren Infektionen führten - "denn jeder Zweite in Peru hat kein Bankkonto", schilderte der Ordensmann. Auch die Straßenmärkte seien durch zu wenig Hygiene zu Covid-19-Hotspots geworden, ähnlich wie der öffentliche Transport mit seinen alternativlosen, überfüllten Bussen. "Corona führt unsere Probleme vor Augen - besonders, dass der Wirtschaftsboom des Landes die Infrastruktur, Bildung und vor allem den Gesundheitssektor nicht erreicht hat. Die Gelder für Investitionen sind in der Korruption versickert. Für diese Fehler früherer Regierungen bekommt Peru nun die Rechnung serviert", so Goicochea.
Arbeitslosigkeit, Trauma und medizinische Misere
Das Leid der Bevölkerung sei unbeschreiblich, denn "alles verschlimmert sich", berichtete der Comboni-Missionar. 6,5 Millionen im Land wurden im Zuge des 30-prozentigen Wirtschaftseinbruchs arbeitslos, 2,7 Millionen davon allein in der Hauptstadt Lima. Viele versuchen, durch Straßenverkauf Einkünfte zu erzielen um zu überleben, was jedoch nur recht und schlecht gelingt; eine Folge ist, dass sich die Zahl öffentlicher Ausspeisungen verdoppelt hat. Sorgen bereitet Goicochea auch die "psychologische Pandemie", erkennbar etwa am Anstieg familiärer Gewalt und Kriminalität wie auch von Traumatisierungen.
Am schlimmsten wiegt derzeit freilich die medizinische Misere. Goicochea:
Da es keine freien Spitalsbetten mehr gibt, sterben fast alle Corona-Patienten mit schwerem Krankheitsverlauf. Medikamente und Sauerstoff sind zu absoluten Luxusgütern geworden, da Apotheken, Privatkliniken und die Hersteller damit spekulieren, was die Preise auf das Fünf- bis Zehnfache in die Höhe trieb.
Das Gesundheitssystem sei infolge der langen Vernachlässigung nicht auf Notfälle vorbereitet, und auch infolge fehlender Schutzmaßnahmen für das medizinische Personal verstarben bereits 124 Ärzte in Peru am Coronavirus, 2.837 sind infiziert.
Hoffnungsaktionen im In- und Ausland
Da sich eine zweite Welle mit erneuter allgemeiner Quarantäne massiv auf die schon angeschlagene Wirtschaft auswirken und den Kampf gegen die Armut um Jahrzehnte zurückschlagen würde, müsse Peru in der Krise seine Schwächen erkennen und rasch aus Fehlern lernen, mahnte Goicochea. Anlass zur Hoffnung sieht er trotz allem. "Was uns am Leben hält, ist die Solidarität zwischen den Menschen wie auch die kleinen Hilfsbrücken von außen. Jeder hat viel zu geben, damit sich unser Land wieder aufrichtet." Dies sei auch das Anliegen der katholischen Bischöfe Perus, die am 20. August das Pastoralprogramm "Peru erhebt sich jetzt" starteten. Dessen Ziel ist es, im Dialog mit der Regierung Solidaritätsaktionen sowie Netzwerke von Kirche, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu stärken.
Seine eigene Pfarre "Cristo Misionero del Padre" in Chorrillos, einer von Armut geprägten Vorstadt Limas mit über 300.000 Einwohnern, hat Goicochea in den vergangenen Monaten zu einem Corona-Hilfswerk umfunktioniert, um auf die große Not zu reagieren. 3.500 Familien wurden bisher durch ein Freiwilligenteam mit Lebensmittelpaketen versorgt, eine kleine Notfall-Apotheke mithilfe eines Arztes und einer Krankenschwester eingerichtet und acht Sauerstofftanks gekauft, die an Haushalte mit Corona-Patienten verliehen werden. "Ich selbst instruiere die Familien im Gebrauch und bringe zugleich die Krankenkommunion", so der Pfarrer, der selbst von der Infektion bislang verschont blieb. Die Warteliste für die Tanks sei lange.
Möglich sind diese Hilfen durch Unterstützungen aus Europa. In Österreich hat die Zwettler Schulinitiative "Wir wollen helfen Zwettl" rund um die Franziskanerin Sr. Karina Beneder viel dazu beigetragen. Aufbauend auf schon länger bestehende Schulpatenschaften, konnten in den vergangenen Monaten neben Spenden auch Vitaminpräparate, Antibiotika und Injektionslösungen gesammelt und ein 114 Kilogramm schweres Medikamentenpaket - nach zweimonatigem Ringen mit den Botschaften, Zollbehörden und dem peruanischen Gesundheitsministerium - von Österreich nach Chorillos überstellt werden. Die Hilfe sei angekommen und von der Pfarrapotheke zum Großteil bereits ausgegeben worden, zeigte sich P. Goicochea überaus dankbar. Die Sammlung für eine Ende September geplante weitere Medikamentensendung ist bereits anlaufen.
(Spendeninfo: "Wir wollen helfen Zwettl", Raiffeisenbank IBAN: AT54 3299 0000 0006 2158 oder Sparkasse: IBAN AT94 2027 2000 0002 2111)
Quelle: kathpress