Zulehner: Kirche soll sich der Pandemieverlierer annehmen
Konsequenzen für Politik und Religion aus der Corona-Krise, die "das Lebensgefühl der Menschen tiefgreifend verändert" habe, zieht der Wiener Pastoraltheologe und Religionssoziologe Paul Zulehner aus einer von ihm initiierten interkontinentalen Online-Umfrage zur Pandemie. Sein Buch dazu unter dem Titel "Bange Zuversicht. Was Menschen in der Corona-Krise bewegt" mit einer Auswertung von mehr als 11.000 Online-Fragebögen hat Zulehner gegenüber Kathpress für Jänner 2021 angekündigt. Im Interview am Freitag empfahl er vorab den Kirchenverantwortlichen einige Weichenstellungen, u.a. eine klare "Option für die Pandemieverlierer".
Zulehner hatte im Juli einen von ihm erarbeiteten Fragebogen in zehn Sprachen ins Internet gestellt, 11.353 auswertbare Reaktionen weltweit waren auch der für ihn überraschende Ertrag. Geantwortet hätten primär gebildete Europäer mittleren und höheren Alters, "doch gibt es brauchbare Vergleichsgruppen - mit Ausnahme Australiens - für alle übrigen Kontinente", wie der vielfache Buchautor berichtete. Gerade für jene Länder, die von der Pandemie besonders betroffen sind, gebe es aufschlussreiches Datenmaterial: für die USA, Großbritannien, Italien, Belgien, vor allem aber für die deutschsprachigen Länder Österreich, Deutschland und die Schweiz.
Zulehner informiert darüber derzeit in Online-Vorträgen, Podcasts und Artikeln wie in der aktuellen Ausgabe von "Il Regno". Gegenüber Kathpress fasste der Theologe Erkenntnisse zusammen, die sich für die Kirchenleitungen angesichts der Corona-Krise nahe legten: Statt den Fokus vorrangig auf Regelungen für Gottesdienste und Sakramente zu legen, werde von der Kirche eine verstärkte Hinwendung zu den vielen "Pandemieverlieren" erwartet - namentlich zu arbeitslos Gewordenen, Alleinerziehenden, Einsamen, vor dem Ruin stehenden Kleinunternehmern, Flüchtlingen. Dies wäre auch im Sinne des oftmaligen Appells von Papst Franziskus, das innerkirchlich vertraute Terrain in Richtung Ränder und Arme zu verlassen.
Mit Dialog gegen Polarisierungen
Corona schüre auch Polarisierungen in den Gesellschaften, wies Zulehner weiter hin. Die Kirche solle sich hier als Brückenbauerin ins Spiel bringen und die Kluft zwischen jenen durch Dialoginitiativen überwinden helfen, die der Gesundheit bzw. der Freiheit Vorrang einräumen bzw. zwischen jenen, die die Wirtschaft wieder sanieren oder aber ihr eine ökologische Kehrtwende verordnen wollen.
Das seelsorgliche Bemühen der Kirche solle - so Zulehner weiter - den Menschen dabei helfen, "in Angst bestehen zu können". Die Option für eine Auseinandersetzung mit der Verwundbarkeit, mit dem Sterben und Tod, aber auch das Vermitteln von Hoffnung kennzeichne eine heute dringend benötigte "spirituelle Kirche".
Und: Die Kirche müsse heute auch auf "hybride Kirchengemeinden" setzen, die die unterschiedliche Bindungsbereitschaft der Menschen in einer von Pluralismus und Individualismus geprägten Zeit berücksichtigen, empfahl Zulehner. Soll heißen: Eine auf Gemeinschaft setzende "Beteiligungskirche" müsse ergänzt werden durch eine auch Distanz akzeptierende "Dienstleistungskirche". Erstere sei sonst davon bedroht, "sektoid zu implodieren", letzterer drohe "Verdunstung" durch Intensitätsverlust.
Politik steht vor "Herkulesaufgaben"
Auch politisch bzw. gesamtgesellschaftlich sind nach der Überzeugung des Wiener Werteforschers Brückenbauer und dialogfördernde "Balance-Künstler" notwendig, um der Corona-Krise beizukommen. Durch die Digitalisierung komme eine "neue soziale Frage" auf die Gesellschaft zu, die Antworten einer "gerechtigkeitsbedachten Politik" erfordere - und dies gerade auch vor der anstehenden "Herkulesaufgabe" einer Ökologisierung der Ökonomie, wie Zulehner hervorhob.
Paul Zulehners Buch "Bange Zuversicht. Was Menschen in der Corona-Krise bewegt" wurde vom Pustet-Verlag für Jänner 2021 angekündigt. "Von den reichen Ergebnissen der internationalen Corona-Umfrage 2020 erwarte ich mir, dass sie zum dringend nötigen fairen gesellschaftlichen Diskurs zu Fragen rund um die Pandemie einen Beitrag leisten", erklärte der Autor dazu.
Quelle: kathpress