Theologe: "Lebensform Christentum" wichtiger als Institution Kirche
Vor einer "schädlichen Fokussierung auf die Institution Kirche" in der aktuellen Corona-Krise hat der Theologe und Politik-Philosoph Jürgen Manemann gewarnt. "Wir haben Angst davor, die Institution zu verlieren", dadurch gerate aber das Wesentliche aus dem Blick, nämlich das Christentum zuallererst als "Lebensform" zu begreifen und als Triebfeder für Veränderung, so Manemann im Interview in der Wochenzeitung "Die Furche", die mit einer Jubiläumsausgabe am 1. Dezember ihr 75-jähriges Bestehen feiert.
Das Problem besteht laut Manemann darin, dass Theologen ebenso wie Kirchenvertreter schlichtweg "die Nähe zum Leben verloren" haben und keine heute relevanten Problemlösungsstrategien anbieten würden. Stattdessen herrsche "zu wenig Sensibilität und zu viel Sentimentalität" in der Kirche: "Die Kirche hat zu viel Mitleid mit sich selbst und zu wenig mit der Welt."
Fokus auf Corona reicht nicht
So ziehe sich die Kirche "immer weiter in sich selbst zurück, weil sie merkt, dass außerhalb der Kirche andere Akteure und Akteurinnen viel weiter und engagierter sind als sie es ist." Ziel eines Christentums, das sich als Lebensform versteht, müsse hingegen sein, alles zu tun, um nicht nur kurzfristig an die Überwindung der Corona-Krise zu denken, sondern auch die weiterhin ungelöste bzw. drohende "Erhitzungskatastrophe" und deren dramatische Folgen für die Menschheit abzuwenden, führte Manemann aus. "Es wird nicht erkannt, dass wir bereits vor der Pandemie in einer Krise lebten, die noch größer werden wird als die, die wir aktuell erfahren."
Theologisch biete die biblische Tradition dazu ein in Vergessenheit geratenes Werkzeug: die Apokalyptik. Im Gegensatz zum "inflationären Gebrauch des Begriffs der Schöpfung" würde die Apokalyptik aufzeigen, was es heißt, "mit unserem Körper zu denken" und politisches Handeln aus "trauernder Sensibilität" zu entwickeln. "Der Graben zwischen Kirche und Welt und Natur" sowie die "Apokalypseblindheit" in Theologie und Kirche führten jedoch dazu, dass eben jener Handlungsdruck, den es braucht, nicht entstehe.
Virus verstärkt Angst vor sozialem Abstieg
Ein "Wiedererstarken eines Interesses an Religion" unter dem Eindruck der aktuellen Corona-Krise könne er nicht feststellen, betonte Manemann weiters. "Aber ich nehme wahr, dass mehr Menschen darüber nachdenken, was es heißen könnte, ein gutes Leben zu führen". Den inzwischen lauter werdenden Ruf von "Corona-Leugnern" und die in dem Zusammenhang steigende Aggressivität führt der Politik-Philosoph, der selbst in zivilgesellschaftlichen Bewegungen wie etwa der Klimaschutz-Bewegung "Extinction Rebellion" aktiv ist, auf "Ressentiment" und eine tief sitzende Angst zurück: "Ursächlich für das gegenwärtige Ressentiment könnte die schon seit Jahren sich ausbreitende Angst vor dem sozialen Abstieg und das damit einhergehende Gefühl des Kontrollverlusts sein". Die Aggression ist daher "nicht durch das Virus entstanden und wird auch nicht mit dem Virus wieder verschwinden", so die Prognose Manemanns.
Manemann ist Schüler des im vergangenen Jahr verstorbenen deutschen Theologen Johann Baptist Metz und Direktor des "Forschungsinstituts für Philosophie Hannover" (fiph).
Quelle: kathpress