
Zulehner: Pandemie bringt weiteren Rückgang beim Kirchgang
Viele fürchten nach der Corona-Pandemie "beim Kirchgang einen weiteren dramatischen Rückgang". Das hat der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner als eine der zentralen Erkenntnisse seiner groß angelegten Online-Studie "Gott im Lockdown" bezeichnet. Bisherige "Gewohnheitschristen" hätten sich "entwöhnt". Wer eher aus Tradition gegangen ist, werde künftig wegbleiben, sagte Zulehner in einem Interview für die Wochenendausgabe der "Wiener Zeitung" (3./4. Oktober). "Es kommen noch die, die um der Sache willen hingehen und weniger wegen des Ambientes."
Diese schwindende Glaubenspraxis wie auch die anhaltend hohe Zahl an Kirchenaustritten erachtet der 80-jährige Werteforscher als kulturell bedingten, "völlig unvermeidbaren Prozess". Auch wenn laut der Langzeitstudie "Religion im Leben der Österreicher*innen" weit mehr als die Hälfte der Befragten dem Satz "Ohne die Kirche wäre das Land ärmer" zustimmen, nähert sich die Kirche nach Einschätzung Zulehners wieder dem "biblischen Normalfall". Jesus habe die damalige kleine Gruppe der Gläubigen als "Salz der Erde" bezeichnet und nicht gesagt: "Die ganze Weltsuppe ist Salz." Zulehners Schluss daraus: "Wir müssen nicht quantitativ stark sein, sondern qualitativ."
Beteiligung und/oder Dienstleistung
Der Wiener Theologe prognostizierte eine künftige Kirche in zwei Erscheinungsformen - als "Beteiligungskirche", die allerdings durch die Überschaubarkeit in Gefahr sei, "dass sich die Leute so gut kennen, dass Fremde kaum Zugang bekommen"; oder aber als "Dienstleistungskirche", die virtuelle Angebote ohne persönliches Einbringen macht und medial gut inszeniert. Beiden Gestalten drohe die Gefahr, dass sie mit der Zeit schrumpfen und irgendwann verschwinden. Nachsatz: "Vielleicht ist das Zukunftsfähige eine Hybridkirche, die einen aktiven harten Kern zusammenbringt, der niederschwellig gastfreundlich ist. Also eine Beteiligungskirche mit qualitativ hochwertigen Dienstleistungen für Suchende, ergänzt durch die nach wie vor nicht einsehbare Kirche in den Häusern."
Für die "Lockdown-Studie" wurden bisher mehr als 14.000 Menschen auf allen Kontinenten befragt. Auf der Website www.zulehner.org kann man selbst teilnehmen. Die Ergebnisse sollen im Jänner 2021 als Buch erscheinen.
Den Artikel in der "Wiener Zeitung" illustriert eine Balkengraphik zum Thema "Katholiken und der Kirchenaustritt", basierend auf Daten des Jahres 2020. "Zum Austreten entschlossen" sind demnach 21 Prozent, 36 Prozent haben bereits an einen Kirchenaustritt gedacht. "Zum Bleiben entschlossen" sind 34 Prozent. Die größte Gruppe bilden die Unentschiedenen mit 46 Prozent.
Dazu Zulehner: Neben den kulturell bedingt unvermeidbaren gibt es auch vermeidbare Kirchenaustritte, wo Phänomene wie Missbrauch, wenig Mitbestimmung, Klerikalismus, "sexualneurotische" und "frauenfeindliche" Aspekte "gleichsam als Brandbeschleuniger gewirkt haben". Der oft vorgeschobene Kirchenbeitrag als Austrittsgrund ist laut dem Religionssoziologen "nur eine unüberhörbare Lesehilfe dafür, dass die Kirche im eigenen Leben belanglos geworden ist".
Ohne Kirche würde für viele etwas fehlen
Neben diesen Irritationen gebe es aber auch Gratifikationen, wie: "Das Evangelium tut dem Leben gut", "bergende Rituale" zu den Lebenswenden Geburt/Heirat/Tod, Kirche als Heimat für Heimatlose, seelsorglicher Rat. Zulehner empfahl, die Kirche sollte sich in Zukunft weniger auf die Irritationen konzentrieren - "die muss die Kirchenführung dennoch rasch vom Tisch wegbringen" - und mehr auf die Gratifikationen. "Auch mich selbst stört viel in meiner Kirche, aber ich habe das Glück, sehr viele Gratifikationen aufgesogen zu haben, von denen ich in meinem spirituellen Leben zehre", gab der Priester Einblicke in seine persönliche Kirchenbeziehung.
Ob der Gesellschaft ohne die Kirche "wirklich etwas fehlen" würde, ist für Zulehner keine Frage - wie auch der Mehrheit der Österreicher: Weit mehr als die Hälfte stimmten dem Satz zu: "Ohne die Kirche wäre das Land ärmer." Und gäbe es keine Caritas, keine Diakonie, keine kirchlichen Kindergärten mehr, "wäre das für die soziale Wärme eine Katastrophe", ist sich Zulehner sicher und appellierte: So gesehen sollte man die Kirche mehr schätzen.
Quelle: kathpress