Experte: Corona reißt bei Missbrauchsopfern alte Wunden auf
Die coronabedingten Kontaktbeschränkungen hatten für viele Heimopfer drastische Auswirkungen: "Die Leute hatten mehr Zeit zum Nachdenken und sich mit sich selbst zu beschäftigen. Dadurch dürften alte Wunden wieder ins Bewusstsein kommen, die sie jahrzehntelang verdrängt haben", berichtete Herwig Hösele, seit 2010 Koordinator der von Waltraud Klasnic geleiteten Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft, in den "Salzburger Nachrichten" (Mittwoch). Dies zeige sich auch in den Zahlen: So wurden allein im Coronajahr 2020 632 neue Zusatzrentenbezieher nach dem Heimopferrentengesetz (HOG) anerkannt. Die Opfer der kirchlichen wie staatlichen Erziehungsheime waren nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1990er-Jahre körperlicher bzw. psychischer Gewalt und auch sexuellem Missbrauch ausgesetzt.
Viele Betroffene kämen nun ins Pensionsalter und hätten daher mehr Zeit, über ihr Leben nachzudenken, als im Berufsalltag davor, so der Koordinator des auch "Klasnic-Kommission" genannten Fachgremiums. Die kirchliche Opferschutzanwaltschaft beschäftigt sich im Auftrag der katholischen Kirche mit Missbrauchsfällen in kirchlichen Einrichtungen.
Als Orte des Missbrauchs gelten auch von Orden geführte kirchliche Einrichtungen, etwa die "Bubenburg" in Fügen im Zillertal, die Mädchenerziehungsheime Scharnitz bei Reutte und Martinsbühel sowie das Heim im oberösterreichischen Steyr-Gleink und das Internat des Gymnasiums Kremsmünster. Als Grund der grausamen Erziehungsmaßnahmen führte Höserle in der "SN" u.a. Überforderung der Ordensleute an, die nicht entsprechend ausgebildet und geeignet gewesen seien, um mit Jugendlichen aus zum Teil schwierigem sozialen Umfeld umzugehen.
Entschädigungen und Heimopferrente
Die katholische Kirche hat nach aktuellem Stand 2.729 Missbrauchs- und Gewalt-Betroffenen Pauschalentschädigungen in Höhe von 25,9 Mill. Euro zuerkannt; hinzu kommen 6,7 Mill. Euro Therapiekosten, da jedem Opfer 30 Stunden Psychotherapie bezahlt werden. Die Opfer werden einmalig pauschal entschädigt - gewöhnlich zwischen 5.000 und 25.000 Euro, bei 28 schweren Fällen mit gravierenden Dauerfolgen waren die Beträge höher. Im Jahr 2019 wurden 293 Opfern Finanzhilfen in Höhe von 2,37 Mill. Euro zuerkannt, 2020 erhielten 236 Betroffene knapp 1,9 Mill. Euro. "In den vergangenen beiden Jahren wurden nicht die schwersten Fälle bearbeitet. Sie bekamen im Schnitt unter 10.000 Euro zugesprochen", wird Hösele in der "SN" zitiert.
Der Staat hat insgesamt 7.435 Heimopfern knapp 92 Millionen Euro zugesprochen. Zusätzlich wurden 4.887 Geschädigten die Therapiekosten ersetzt. Aktuell beziehen zudem 4.241 Betroffene eine Heimopferrente nach dem Heimopferrentengesetz (HOG), das 2017 in Kraft getreten ist. Die Rentenzahlung von jährlich 4047,6 Euro erhalten jene Personen, die in Heimen des Bundes, der Länder und der Kirche missbraucht bzw. misshandelt wurden und dafür bereits eine pauschalierte Entschädigungsleistung vom Heimträger erhalten haben. Sie wird von der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) ausbezahlt. Allein im Coronajahr 2020 wurden 632 neue Zusatzrentenbezieher anerkannt, 2019 waren es 867 Personen.
Diese Zahlungen gelten als Anerkennung des Unrechts, das den Heimkindern widerfahren ist. Infolge der Gewalt und der emotionalen Vernachlässigung litten viele Betroffene an psychischen Problemen und Traumata, so die "SN". Eine eigene Rentenkommission der Volksanwaltschaft prüft die Gewalterfahrungen von ehemaligen Heimzöglingen auf deren Glaubwürdigkeit.
Zehn Jahre "Klasnic-Kommission"
Laut den Zahlen der 2010 gegründeten kirchlichen Unabhängigen Opferschutzkommission liegt die allergrößte Zahl der gemeldeten Vorfälle von Missbrauch oder Gewalt Jahrzehnte zurück: 14,5 Prozent ereigneten sich in den 1950er-Jahren und früher, 38 Prozent in den 1960ern, 31 Prozent in den 1970ern, 10,5 Prozent in den 1980er-Jahre, 4 Prozent in den 1990er-Jahren und nur 1,2 Prozent in der Zeit ab dem Jahr 2000. 65 Prozent der Betroffenen, die sich an die Kommission wandten, sind Männer, 35 Prozent Frauen.
Im Herbst 2020 wurde im Zuge der 10-Jahres Feierlichkeiten die Publikation "Verantwortung! Es kann und darf keinen Schlussstrich geben! 10 Jahre Unabhängige Opferschutzkommission. Zwischenbilanz und Ausblick" vorgelegt. Sie enthält u.a. Beiträge aller Kommissionsmitglieder, umfangreiches statistisches Material, einen breiten Rundblick über die nationale und internationale Entwicklung aus der Sicht der Medien und einen Beitrag des Leiters des päpstlichen Kinderschutzzentrums in Rom, Hans Zollner.
Ziel der Kommission seien einerseits Hilfeleistungen für Betroffene und Aufarbeitung, andererseits Bewusstseinsbildung und Prävention. Beides bleibe eine Daueraufgabe, betont Opferschutzanwältin Waltraud Klasnic auf der Website der Opferschutzanwaltschaft. Der Kommission gehören u.a. Persönlichkeiten aus den Bereichen Recht, Psychologie, Medizin, Pädagogik und Sozialarbeit an, etwa die vormalige Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein.
Das Büro des Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft und -Kommission ist von Montag bis Freitag von 9 bis 12 Uhr unter Tel.: +43 664 9807817 bzw. Mail office@opfer-schutz.at erreichbar. (Info: www.opfer-schutz.at)
Quelle: kathpress