Politikwissenschafter: Müssen der Krise solidarisch gegensteuern
Eine "starke Stimme für ein solidarisches Gegensteuern" angesichts der Pandemie mit ihrer drohenden Wirkung als "sozialer Brandbeschleuniger", forderte Politikwissenschafter Helmut P. Gaisbauer am Mittwoch bei der Online-Veranstaltung "Die soziale Frage heute". Der Experte vom Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg ist überzeugt, eine gute Gesellschaft für alle würde bedeuten, "jedem Menschen eine menschenwürdige Existenz, ein Leben in Würde zu ermöglichen. Davon sind wir trotz Bemühungen weit entfernt." Wer über Armut rede, dürfe über Reichtum nicht schweigen, sagte Gaisbauer mit Blick auf eine solidarische Gesellschaft: "Über-Reichtum ist die 'andere Soziale Frage' unserer Zeit, weil es keine private Frage ist, wie Vermögen entsteht, verwaltet und verteilt wird."
Der Politologe äußerte sich im Rahmen einer hochkarätig besetzten Festveranstaltung anlässlich des 130-Jahr-Jubiläums des Lehrschreibens "Rerum novarum" von Papst Leo XIII. und der Katholischen Soziallehre, ausgetragen am Mittwochnachmittag von der Katholischen Sozialakademie Österreichs (ksoe) und der Fraktion Christlicher Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter (FCG). Im Mittelpunkt der inhaltlichen Impulse stand die Frage "Navigieren in stürmischen Zeiten - welche Orientierung bietet die Katholische Soziallehre?" Nach dem Dreischritt Sehen-Urteilen-Handeln legen die eingeladenen Fachleute den Fokus auf die Arbeits- und Lebenswelt am Beginn des 21. Jahrhunderts im Licht der Soziallehre und zeigen "Perspektiven für eine lebenswerte Arbeitswelt" auf. Als Basis dienen kirchliche sozialethische Lehrschreiben von "Rerum novarum" (1891) bis "Laudato si" (2015) und "Fratelli tutti" (2020), in denen der gesellschaftspolitische Auftrag von Christinnen und Christen im Vordergrund steht.
"Politische Akzeptanz" von Nöten
Das heutige Unsicher-Werden von Arbeits- und Lebensverhältnissen ist laut Hauptreferent Gaisbauer charakterisiert durch die "Zunahme atypischer Beschäftigung wie Leiharbeit und Scheinselbstständigkeit", durch Leistungskürzungen und erhöhtem Druck, sowie durch "politische Akzeptanz hoher (Jugend-) Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, unbezahlter und prekärer Arbeit, Altersarmut, Familienarmut". Knapp 1,5 Millionen Menschen sind in Österreich armuts- oder ausgrenzungsgefährdet, zitierte Gaisbauer Daten der Statistik Austria. 303.000, also mehr als ein Fünftel davon, sind Kinder. Eine Kernerfahrung von Armut sei Schwächung, charakterisiert durch "Ignoranz und demütigende Behandlung durch das soziale Umfeld und öffentliche Stellen".
Digitalisierung bezeichnete Gaisbauer als "universelle technologische Revolution mit erhöhter Sprengkraft auch für die Soziale Frage des 21. Jahrhunderts". Wo Chancen sind, gehe es auch um Macht. Folgen der Digitalisierung für Lebens- und Arbeitsbedingungen seien letztlich eine politische Gestaltungsfrage. Erwartbar seien deshalb Trends in der Arbeitswelt wie ein massiver Stellenrückgang im gehobenen Dienstleistungssektor. Körpernahe, schlecht entlohnte Dienstleister wie Lieferservice, Pflege und Reinigung würden weiterhin unverzichtbar bleiben, so der Politologe. Erwartbar seien auch ein weiteres Unterlaufen arbeitsrechtlicher Standards und der drohende Verlust der kollektiven Mitgestaltung durch Arbeitnehmende. Zentral seien deshalb Fragen einer "Sozialethik der Digitalisierung".
Der gesellschaftliche Anspruch müsse sein, allen Menschen in sozialen Notsituationen ausreichende Mittel zur Lebensführung, Unterstützung und Begleitung bieten, mit dem Ziel eines selbstbestimmten und würdevollen Lebens. "Ein hoher Standard von Solidarität ist leistbar, in einer wohlhabenden Gesellschaft Verpflichtung. Appelle an Resilienz und Eigenverantwortung als Fortsetzung des Neoliberalismus mit anderen Mitteln sind klar als falscher Weg der sozialen Kälte zu benennen und zu überwinden", sagte Gaisbauer abschließend.
Offen für neue soziale Fragen
Sie sei kein dogmatisches, in sich abgeschlossenes Lehrgebäude, sondern ein "System offener Sätze", beschrieb Markus Schlagnitweit die katholische Soziallehre: offen für jeweils neu sich stellende soziale Fragen, aber auch in der Ableitung konkreter politischer Antworten - immer aus spezifisch christlicher Perspektive. "Die Stärke liegt in ihrer kritisch-korrektiven Orientierungsfunktion angesichts gesellschaftlicher Herausforderungen", sagte der ksoe-Direktor.
An den Entstehungskontext von "Rerum novarum", der wegweisenden ersten Sozialenzyklika, erinnerte KAB-Bundesseelsorger Karl A. Immervoll. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich Genossenschaften und Arbeitervereine auf sozialistischer sowie auf christlicher Seite. "Sie waren durchaus umstritten und angefeindet. Doch sie übten Druck aus, auch auf Bischöfe und die Kirchenleitung", so Immervoll. Noch unter dem Antimodernisten-Papst Pius IX. wäre seiner Ansicht nach eine Enzyklika wie "Rerum novarum" nicht denkbar gewesen, "dazu brauchte es das Zeitfenster mit Leo XIII., der 1891 dann dieses Schreiben veröffentlichte". Dort betonte der Papst die Wichtigkeit der Arbeitervereinigungen und gab damit der Selbsthilfe und Selbstorganisation von Arbeitenden die offiziell-kirchliche Anerkennung.
FCG-Vertreterin Karin Petter-Trausznitz betonte, innerhalb ihrer Bewegung habe die Christliche Soziallehre einen "zentralen Stellenwert". Ihr Auftrag sei es, das christlich-soziale Wertefundament allen Funktionären und Personalvertreterinnen als Werkzeug zur Verfügung zu stellen. Das sei nicht einfach, weil "christlich-sozial" infrage gestellt werde, wie die Gewerkschafterin sagte. Gerade durch den gesellschaftspolitischen Rückzug der Kirchen sei der Begriff in der Gesellschaft "leer geworden", als gesellschaftspolitische Identität komme "christlich-sozial" kaum noch vor. Das Erlernen des Handwerkzeugs einer christlich-sozialen Gesellschaftspolitik wurde laut Petter-Trausznitz in den letzten Jahren vernachlässigt oder als "altbacken" belächelt.
FCG-Vorsitzender Norbert Schnedl und KABÖ-Vorsitzende Anna Wall-Strasser ziehen am Schluss der Veranstaltung Schlussfolgerungen für die aktuelle soziale Frage. (Info und Link zum Live-Stream bis 18 Uhr: http://www.kaboe.at)
Quelle: kathpress