Theologin Polak: Kirche muss "Lobby für Sündenböcke" sein
Kirchen müssen nach den Worten der Wiener Theologin Regina Polak einen aktiven Beitrag leisten, um der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken und die Demokratie zu stärken. "Wenn wir nur reden, dann ist das zu wenig. Wir müssen handeln", unterstrich die Vorständin des Instituts für Praktische Theologie der Universität Wien am Mittwoch beim "Missionstag" der Herbsttagung der Orden, zu dem Vertreter der missionarisch aktiven Männer- und Frauenorden in Videokonferenz versammelt waren. Erst indem sich die Kirche zum Anwalt der Ausgestoßenen der Gesellschaft mache, werde sie ihrem Auftrag gerecht.
Besonders in Krisen bestehe die Gefahr, dass eine Denkweise von "die anderen" manche Menschen zu "Sündenböcken" mache, erklärte Polak am Beispiel der Flüchtlingssituation der vergangenen Jahre. Würden "Wir"-Gruppen zu fixen Identitäten, die gegeneinander um Durchsetzung kämpfen, führe dies zu Spaltungen von Elitegruppen, zu "Bubbles", die untereinander keine Verbindung mehr hätten und zur Unterscheidung in "wertvolle" und "weniger wertvolle" Gruppen. "Menschen, die zum Wirtschaftserfolg beitragen, gelten zunehmend als wertvoll, im Gegensatz zu den Arbeitslosen", nannte die Theologin als Beispiel. In letzter Konsequenz führe dies bis zum Rassismus.
Derartigen negativen Entwicklungen könne die Kirche nur dann entgegenwirken, wenn sie sich als Teil der Zivilgesellschaft sehe und darauf verweise, "dass anderes möglich ist", sagte die Pastoraltheologin. Indem die Kirche eine Denkweise vertrete, wonach der Mensch der menschlichen Gemeinschaft und Gott zugleich verpflichtet ist, schaffe sie "Abstand, innere Freiheit und eine andere Form der Zugehörigkeit". Christliche Identität sei dabei "keine Interessengruppe, sondern vollzieht sich überhaupt erst im Dienst anderer". Statt Konkurrenz müsse sie Dialog, Begegnung und Kooperation suchen, interkulturelle und interreligiöse Plattformen bilden und gesellschaftspolitisch aktive Gemeinden und Gemeinschaften bzw. vielfältige Bindungen zwischen verschiedenen Milieus fördern.
Auch politisch müsse die Kirche parallel dazu ihre Stimme erheben, so das Credo Polaks: Als "Lobby für die Unsichtbaren, für die Marginalisierten, für die Sündenböcke" und durch den Einsatz für eine gerechte Gesellschaft einsetzen. Aufrütteln könne die Kirche die Menschen, indem sie die hinter vielen Konflikten stehenden "Verteilungsfragen" thematisiere und zugleich auch die "Gottesfrage" wachhalte. "Ins Politische gewendet heißt das, dass wir diesen Immanenzglauben entsakralisieren und wir erst die Tür wieder aufmachen müssen für viele Menschen in die spirituelle Welt". Um "durch, in und mit Christus" zu sprechen, sei vor allem das konkrete Handeln erforderlich, da Theologie durch dieses überhaupt erst glaubwürdig werde.
"Dialog bis zur Erschöpfung" nötig
Mit Otto Neubauer von der Akademie für Dialog und Evangelisation sprach beim "Missionstag" auch ein Vertreter der Katholischen Gemeinschaft Emmanuel. Der Theologe, Pädagoge und Buchautor bekannte sich zum Dialog, für den es sich "bis zur Erschöpfung" einzusetzen gelte. Neubauer berichtete hier von Erfahrungen aus 25 Jahren Gemeindemissionen. Dabei werde im Rahmen einer einjährigen Vorbereitungszeit den Gemeindemitgliedern unter anderem die Frage "Was würde Jesus die nächste Woche in unserer Pfarre tun, wenn er für 10 Tage in die Pfarre käme?" gestellt. Das Ergebnis seien unzählige Dialogveranstaltungen über Gott und die Welt gewesen, teils an sehr ungewöhnlichen Orten - "weil sich auch Jesus gerne mit Menschen 'außerhalb' der Kirche in 'ihren' Lebenswelten getroffen hätte".
Konkret sei man bei den Gemeindemissionen dorthin gegangen, wo Menschen waren, wo sie gerne sind, feiern und ihren Leidenschaften frönten: "In Kaffeehäuser, zu Heurigen, in Hallenbäder, sogar ins Casino", berichtete der Missions-Experte. Ebenso seien jedoch auch die Orte der Einsamkeit, Angst und Trauer im Fokus gestanden. Schließlich gelte: "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände", zitierte Neubauer aus der Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes" des Zweiten Vatikanischen Konzils. Diesen menschlichen Themen gelte es auf den Grund zu gehen und zu "lernen, manchmal lange zu diskutieren und auch nicht immer einer Meinung zu sein".
Neubauer verwies auf zehn Leitsätze, die sich aus diesen Dialogerfahrungen herauskristallisiert hätten: "Jeder Mensch verdient unsere Achtung. Der Andere hat etwas Wertvolles zu sagen. Wir trauen dem Anderen unsere Meinung, unsere Botschaft, zu. Wir wollen den Anderen herzlich aufnehmen. Zuallererst wollen wir zuhören. Wir stellen uns den gesellschaftlichen Herausforderungen und existenziellen Fragen. Wir öffnen uns für Inspirationen, bewusst auch den christlichen Quellen. Im Disput möchten wir die Meinung des Anderen lieber 'retten'. Aufkommende Aggressionen wollen wir ernst nehmen. Wir sind bereit, unsere Vorurteile immer wieder aufs Neue abzubauen."
Den Dialog versucht Otto Neubauer mit der "Akademie für Evangelisation" auch auf politischer Ebene voranzutreiben: Mit 20 Mitstreitern aus allen Parlamentsparteien und der Zivilgesellschaft wurde die Initiative "Politisch.Neu.Denken" gestartet. Auf Basis der Karlspreis-Rede von Papst Franziskus 2016 formulierten die Beteiligten eine Charta mit "11 Prinzipien eines neuen politischen Dialogs", die 2017 vor Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Vertretern aller Parteien präsentiert wurde. "Wir stellten uns die Frage: Was braucht eine politische Kultur? Der erste Weg war: Den Menschen zu sehen, nicht den Politiker. Wir treffen Menschen! Und die Erkenntnis: Wir brauchen einander", berichtete Neubauer. (Infos: www.ordensgemeinschaften.at)
Quelle: kathpress