Forschungsprojekt über orthodoxe Weltkriegsflüchtlinge in Hollabrunn
Im Ersten Weltkrieg mussten zahlreiche Bewohner der östlichsten Gebiete Österreich-Ungarns vor der heranrückenden russischen Armee fliehen. Darunter waren auch viele orthodoxe Bürger der Donaumonarchie. Tausende verschlug es in das heutige Niederösterreich. Das Forschungsprojekt "Auf der Flucht in der Monarchie - das Schicksal der orthodoxen Flüchtlinge im Lager Oberhollabrunn (1914-1918)" erzählt ihre Geschichten. Da die öffentliche Präsentation der Forschungsergebnisse, die für 2. Dezember angesetzt war, coronabedingt abgesagt werden musste, wurden die Ergebnisse nun im Rahmen einer Online-Präsentation vorgestellt. Zudem wurde eine Online-Ausstellung eingerichtet: https://auf-der-flucht.orthodoxes-europa.at/de/ausstellung.
Der griechisch-orthodoxe Metropolit Arsenios (Kardamakis) hat das Forschungsprojekt begrüßt. Das Projekt zeige, "wie viel wir aus der gemeinsamen Geschichte lernen können, um eine noch bessere gemeinsame Zukunft gestalten zu können", so der Metropolit in seinem Grußwort bei der Präsentation. Das sei insbesondere in Zeiten der Pandemie von besonderer Bedeutung. Kardamakis würdigte die gute ökumenische Zusammenarbeit im Rahmen des Projekts, namentlich mit der Erzdiözese Wien.
Das Forschungsprojekt basiert u.a. auf vormals unveröffentlichten Beständen des Archivs der Metropolis von Austria, der Erzdiözese Wien, des Stadtarchivs Hollabrunn und des Niederösterreichischen Landesarchivs in St. Pölten, die von einem Team junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler umfassend ausgewertet wurden. Den Grundstock der Daten bilden 343 Totenbeschaubefunde zu den orthodoxen Flüchtlingen aus dem Archiv der Metropolis, wie Projektleiter Mihailo Popovic erläuterte. Die Lebenswege der orthodoxen Flüchtlinge wurden rekonstruieren und mit digitalen kartografischen Mitteln konnte ein Bild ihrer Flucht aus ihren jeweiligen Lebenswelten in eine neue, unbekannte Umgebung nachgezeichnet werden.
25.000 Flüchtlinge in Niederösterreich
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Juli 1914 gelang es der russischen Armee zunächst, in der Bukowina und in Ostgalizien tief auf das Staatsgebiet Österreich-Ungarns einzudringen. Dies hatte zur Folge, dass die dortige zu einem beträchtlichen Teil orthodoxe Bevölkerung floh und in andere Teile der Monarchie evakuiert wurde. Im Februar 1915 befand sich rund eine halbe Million Kriegsflüchtlinge aus Galizien in verschiedenen Teilen der Monarchie, davon rund 25.000 in Niederösterreich. Die Statthalterei von Niederösterreich erließ ein Rundschreiben an alle Bezirkshauptmannschaften und fragte an, ob die Möglichkeit zur Aufnahme dieser Kriegsflüchtlinge bestünde. Oberhollabrunn (jetzt Teil der Stadt Hollabrunn) war wegen des Bedarfs an Hilfskräften in der Landwirtschaft dazu bereit und errichtete ein Lager.
An Unterkünften wurden Familienhäuser in fester Bauweise sowie Baracken aus Holz erbaut. Es entstand eine komplette autarke Infrastruktur mit Gebäuden für die Lagerverwaltung, mit einer Schule, einer Wäscherei, Werkstätten, Wachhäusern, Ställen für Rinder und Schweine, Wirtschaftsgebäuden, einer Quarantänebaracke, einer Spitalsbaracke, einem Feuerwehrzeughaus, einer Kirche und einem Gasthaus. Im Sommer 1916 wurde das Flüchtlingslager in Betrieb genommen und beherbergte im September 1916 bereits 2.000 Flüchtlinge aus Ostgalizien und der Bukowina. Aufgelassen wurde das Lager, das zur Zeit der stärksten Belegung über 4.000 Flüchtlinge beherbergte, Ende April 1918.
Eine große Gefahr für die Flüchtlinge ging von Krankheiten, hier vor allem vom Flecktyphus, aus. Die Mortalität im Lager Oberhollabrunn war - wie generell in der Bevölkerung der Monarchie im Verlaufe des Krieges - sehr hoch.
Geoportal und App
Die Oberhollabrunner Forschungsergebnisse sind auch im digitalen Geoportal der Geschichte der Orthodoxen in Österreich frei zugänglich und abrufbar (https://orthodoxes-europa.at/geoportal). Zudem wurde eine App entwickelt, mit der GPS-basiert vor Ort in Hollabrunn Texte zur Geschichte des Lagers und der Flüchtlinge aufgerufen und alte Fotos mit aktuellen verglichen werden können.
Das Projekt wurde vom Zukunftsfonds der Republik Österreich finanziert und ist Teil einer größeren privaten Forschungsinitiative von Mihailo Popovic mit dem Titel "Digitales Geoportal der Geschichte der Orthodoxen in Österreich" (www.orthodoxes-europa.at). Popovic ist Byzantinist, historischer Geograf und Südosteuropaforscher an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und Mitarbeiter der Metropolis von Austria.
Quelle: kathpress