Theologe: Orden sollen künftig mehr Risikobereitschaft zeigen
Angesichts der schwindenden Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft sieht der Grazer Pastoraltheologe Prof. Rainer Bucher die Orden besonders gefordert, um Räume zu schaffen, in denen das Evangelium in seinen vielfältigen Dimensionen erfahren werden kann. Er ermutigt die Orden auch, dabei Risikobereitschaft zu zeigen. Bucher hielt dieser Tage den Hauptvortrag bei der "Ordenswerkstatt" in Wien-Lainz, bei der sich Ordensfrauen und -männer Gedanken über die Zukunft des Ordenslebens in der spätmodernen Gesellschaft machten.
"Was wir uns heute vorstellen, was kommen wird, wird nicht das sein, was kommen wird. Wir beherrschen die Gegenwart nicht", so Prof. Bucher, der seine Ausführungen mit einem Gedankenexperiment begann. Wer hätte 1988 damit gerechnet, "dass die Sowjetunion zerfällt, dass islamische Fundamentalisten Teile der Welt zerstören, dass wir immer und überall erreichbar sein werden, ein afroamerikanischer Präsident die USA regiert oder auch ganz aktuell, wer hätte mit Krieg in Europa gerechnet?" - Diese Unvorhersehbarkeit bedeutet laut dem Pastoraltheologen aber auch, dass es nicht nur unerwartete Probleme, sondern auch unerwartete Lösungen geben könne.
Religion wird laut Prof. Bucher nicht verschwinden, sie werde aber gesellschaftlich wie im individuellen Leben nachrangig. Religiöse Angebote würden von vielen nur mehr situativ genutzt, "und das alles in einer Zeit, in der die Verunsicherung ständig steigt", erklärte der Experte. Umfragen zeigten, dass der Wert "Religion" an Wichtigkeit verliert, Werte wie "Familie und Freunde" würden dagegen ganz vorne rangieren.
Katholische Kirche verliert "Pastoralmacht"
Die Katholische Kirche steht laut Prof. Bucher am "Kipppunkt ihrer Geschichte". Die "Pastoralmacht", die sie lange besessen und ausgelebt hat, gehe nach und nach verloren. "Pastoralmacht" zeigt sich laut dem Pastoraltheologen auf drei Ebenen: auf der Ebene der individuellen Spiritualität, der gemeinschaftlichen sowie der staatlichen bzw. herrschaftlichen Ebene. Ziel der "Pastoralmacht" sei es, zu bewachen und zu überwachen, also Schutz und Kontrolle auszuüben. Um das eigene Heil zu erreichen, müsse der Hirte seine Herde be- und überwachen. Mit dieser "Pastoralmacht" der Kirche aber sei es vorbei.
Die Kirche erleidet laut Bucher einen umfassenden Kontroll-, Macht- und Reichweitenverlust. Er riet deshalb dazu, "Räume" zu schaffen, in denen sich die Chance erhöht, das passiert, wozu es Kirche gibt: "die kreative Konfrontation von Evangelium und Existenz. Oder anders gesagt. Räume, in denen man dem Heiligen Geist eine Wirkungschance gibt".
Bucher verdeutlichte das Gesagte an einem konkreten Beispiel: Statt alle Schüler zum Schulgottesdienst zu verpflichten und sich auf dieser Verpflichtung auszuruhen, sollte man sich lieber fragen: "Wie gestalte ich einen Schulgottesdienst so, dass die Schüler freiwillig kommen?" Der Clou dabei sei: "Er oder sie muss spüren, dass er durch uns Räume entdecken kann, die er sonst nicht entdecken würde."
Neugründungen und Veränderungen
An die Ordensgemeinschaften appellierte Bucher, sich nicht ausschließlich von der Gründungsgeschichte her zu verstehen: "Die Gründerinnen und Gründer von Orden schafften damals wirklich Neues. Dieses Neue von damals bleibt wichtig und beispielhaft, ersetzt aber nicht die Suche nach dem heute vom Evangelium her notwendigen Neuen in Spiritualität, Sozial- und Lebensformen."
Menschen seien stets auf der Suche nach sozialer Anerkennung und sinnstiftenden Orten. Die von Ordensfrauen und -männern gelebten evangelischen Räte böten in dieser Hinsicht einen kreativen Kontrast zu anderen Lebensformen. Armut als kreativer Kontrast bedeute etwa, "in Solidarität mit den Schwächeren in unserer Gesellschaft zu leben".
Im Zweifelsfall, so Bucher, sollten sich die Orden für das Risikoreichere und nicht das Sichere entscheiden, so wie es auch schon die Gründungspersönlichkeiten getan hätten.
Orden würden auch um Neugründungen nicht herumkommen, zeigte sich der Theologe überzeugt. Neugründungs- und Veränderungsprozesse müssten positiv gesehen und als Befreiung für neue Möglichkeiten wahrgenommen werden. Auch wenn es für viele Herausforderungen der gegenwärtigen Zeit noch keine Antworten gibt, dürften die Orden diesen Anfragen nicht ausweichen, mahnte Bucher. Und er formulierte abschließend folgenden Wunsch an die Ordensleute: "Seien Sie ein Segen!"
Quelle: kathpress