Nahost-Experte: Hilfe vor Ort oft nicht mehr als "Sonntagsreden"
Die von Europa vielfach beschworenen Hilfen vor Ort für Länder im arabischen Raum sind oft nicht mehr "Sonntagsreden", denn "in Wirklichkeit passiert da wenig". Darauf hat der Nahost-Experte und ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary im Interview mit der Linzer "KirchenZeitung" (aktuelle Ausgabe) hingewiesen. Die Zusammenarbeit der EU mit Autokraten in der Region bezeichnete der Korrespondent, der seit 2004 das Nahostbüro des ORF in Kairo leitet, als "groben Fehler".
Die derzeit steigenden Kosten für Lebensmittel und Energie machten den Ländern im Nahen Osten noch weitaus mehr zu schaffen als etwa Österreich. "Im Libanon kostet das Auftanken eines Autos derzeit 80 Prozent des libanesischen Minimallohnes, nur damit man sich die Relationen vorstellen kann". Europa sei gut beraten, die Nahrungsmittelkrise nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei sei es keine Frage, etwas selbstlos zu tun, sondern "es ist eine Frage der Stabilität in der unmittelbaren Nachbarschaft", so die Einschätzung des Journalisten.
In Ägypten etwa gebe es zwar keine Hungersnot, aber über 80 Prozent der Ägypter leide laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen unter Mangelernährung. Der nächste Schritt wäre, dass Hunger konkret zum Problem werde. "Wir reden von 100 Millionen Menschen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Europa, das kann sich zu einer ganz großen Geschichte auswachsen". Diese Fakten zu ignorieren, könne sich als "Bumerang" herausstellen, der "sehr schnell" nach Europa zurückkommt.
In der Vergangenheit sei es Europas größter Fehler gewesen, "ohne mit der Wimper zu zucken" mit den arabischen Autokraten zusammenzuarbeiten, zeigte sich El-Gawhary überzeugt. Man hatte sich erhofft, dass diese den Terror "an vorderster Front" bekämpfen würden und Menschen davon abhielten, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Die Autokraten seien aber nicht die Lösung, sondern ein großer Teil des Problems: "Sie verursachen eine Radikalisierung in der Bevölkerung, weil sie Leute wegsperren." Trotzdem habe Europa mit ihnen zusammengearbeitet und sogar Waffen wie im Falle Iraks, Ägyptens und Algeriens geliefert, erinnerte der ORF-Korrespondent.
Schaufenster in Richtung autokratischer arabischer Welt
Die wenigen Demokratiebewegungen in der Region würden von Europa in der Luft hängen gelassen, so El-Gawhary, der etwa an das Beispiel Tunesiens erinnerte. Diese demokratische Erfolgsgeschichte, die aus dem arabischen Frühling hervorgegangen ist, hätte viel mehr Hilfe von europäischer Seite benötigt. "Tunesien hätte ein demokratisches Schaufenster in Richtung autokratischer arabischer Welt sein können, ein bisschen wie es Westberlin in Richtung Osten war." Dieser Zug sei jetzt abgefahren, "der jetzige Präsident ist gerade dabei, die Demokratie zu demontieren. Dabei sieht Europa zu".
In Europa würden alle Geschehnisse mit der Religion erklärt. "Dabei haben wir hier seit Jahrzehnten autokratische politische Systeme, die sich meist nicht religiös legitimieren." Die soziale Frage etwa sei weit wichtiger, um zu verstehen, wie die arabische Welt wirklich ticke.
Insgesamt gebe es derzeit wenig, was ihn für die Region derzeit optimistisch stimme, "weil man sieht, wie alles rundherum den Bach runtergeht". Den Menschen gehe es immer schlechter, politisch gebe es kaum mehr Spielraum. "Was mich manchmal doch optimistisch stimmt, ist, dass es immer wieder Protestbewegungen gibt. Dass Leute auf die Straße gehen." Die einzige Hoffnung wäre, "dass aus diesen Protestbewegungen in der arabischen Welt was Neues entsteht", so El-Gawhary abschließend.
Karim El-Gawhary leitet seit Mai 2004 das ORF-Büro in Kairo und betreut von dort aus den gesamten arabischen Raum. Er meldet sich als Auslandskorrespondent regelmäßig in den Nachrichtensendungen des ORF zu Wort.
Quelle: kathpress