Ethiker: Unterstützung der Ukraine verletzt Neutralität nicht
Österreichs Neutralität verbietet es in einem zwischenstaatlichen Konflikt zwar, selbst unmittelbar in Kampfhandlungen einzugreifen oder Waffen an kriegsführende Parteien zu liefern. Aber auch ein neutraler Staat wie Österreich ist nach den Worten von Markus Schlagnitweit, Direktor der Katholischen Sozialakademie Österreichs (ksoe), verpflichtet, das in der UN-Charta verankerte Gewaltverbot bei territorialen Konflikten zu verteidigen. Gegenüber der Verletzung des Völkerrechts und erst recht bei Kriegsverbrechen könne es keine Neutralität im Sinne der Unparteilichkeit geben. Bei der Unterstützung der Ukraine gehe es also nicht um Parteinahme für eine Kriegspartei als solche, sondern um die legitime Verteidigung von Rechtsgrundlagen, auf die sich auch das neutrale Österreich selbst stützt.
Beistandspflicht gegenüber der Ukraine schließt laut Schlagnitweit auch ein, Belastungen für die eigene Volkswirtschaft in Kauf zu nehmen. Denn die militärische Aggression Russlands gefährde eine dauerhafte Friedensordnung: "Ein Angriff auf die territoriale Integrität und politische Souveränität eines anerkannten Staates betrifft ja nie nur diesen selbst, sondern die gesamte Staatengemeinschaft", wies der Experte hin. Im konkreten Fall der Attacke auf eine "internationale Kornkammer" stehe auch die weltweite Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln zur Disposition.
In seiner Stellungnahme gegenüber Kathpress zur Neutralitätsdebatte und zum Angriffskrieg Russlands räumte Schlagnitweit ein, dass sich die christlichen Kirchen mit einer einhelligen Positionierung zum Krieg schwertun. Die Wortmeldungen reichten vom kompromisslosen Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit bis hin zur Rechtfertigung der russischen Aggression als "metaphysischem Kampf gegen das Böse" durch das Moskauer Patriarchat.
Jetzt Schadens-Minimierung statt Gewaltfreiheit
Aus friedensethischer Sicht hielt der ksoe-Direktor fest, dass das christliche Grundprinzip der gewaltfreien Konfliktlösung in einer bereits bestehenden Kriegs-Situation nicht mehr uneingeschränkt Geltung beanspruchen könne. An seine Stelle müsse das Prinzip der Gewalt- bzw. Schadens-Minimierung treten. Wie andere Kommentatoren aus Theologie und Ethik betonte auch Schlagnitweit, jedem Opfer einer Aggression stehe das Recht auf Notwehr und Verteidigung seiner Souveränität zu, sofern diese Souveränität selbst auf legitimen Grundlagen beruht. Der Einsatz militärischer Mittel sei aber jedenfalls "nur als ultima ratio" nach Ausschöpfung aller anderen Optionen gerechtfertigt, müsse außerdem verhältnismäßig sein und begründete Aussicht auf Erfolg haben.
"Erfolg" bedeute aktuell die Abwehr der russischen Aggression, d.h. die Erhaltung der staatlichen Souveränität sowie der territorialen Integrität der Ukraine. Als illegitim erachtet der Sozialethiker darüber hinausgehende, etwa von US-Seite formulierte Kampfziele wie eine derartige Schwächung Russlands, dass es keine oder überhaupt nie mehr eine Bedrohung darstellen kann.
"Russland nicht dämonisieren"
In diesem Zusammenhang forderte Schlagnitweit als längerfristige Perspektive, der Umgang mit Russland dürfe einer dauerhaften Friedenslösung nicht entgegenstehen. Auch der militärische und politische Gegner bleibe ein Gegenüber mit Rechten bzw. Russland ein erneut in eine tragfähige Friedensordnung zu integrierender Staat. Legitime Sicherheits- und vitale wirtschaftliche Interessen auch des Aggressors müssten - sofern nicht mit militärischer Gewalt durchgesetzt - Beachtung und Akzeptanz finden. Dies sei unabdingbare Voraussetzung für eine neue Friedensordnung, die nicht erneut auf Unterdrückung und Gewalt aufbaut oder Anlässe dafür liefert, betonte der Ethiker. "Russland darf also nicht per se dämonisiert werden."
Nach Kriegsverbrechen seien nur die dafür Verantwortlichen zur Verantwortung zu ziehen: "Es gibt hier keine Kollektivschuld, auch nicht in der Verantwortung für die Verletzung des Völkerrechts." Hass, Rache und demütigende Strafsanktionen gegen Russland dürften nach Ende des Krieges keine Leitmotive bei den Friedensverhandlungen sein, hielt Schlagnitweit fest.
Die aktuellen Wirtschaftssanktionen gegen Russland dürften in keine dauerhafte Isolierung Russlands münden. So problematisch Abhängigkeit von russischen Rohstoffen und Energieträgern durch die Gefahr von Erpressbarkeit auch sei -"gegenseitige Abhängigkeiten und wirtschaftliche Kooperation auf Augenhöhe sind aber weiterhin eine bessere Basis für eine stabile Friedensordnung als Isolationismus oder militärische Abschreckung". Der ksoe-Direktor erinnerte hier an die erfolgreiche Gründungsidee der EU, Frieden durch wirtschaftliche Verflechtung und Zusammenarbeit zu schaffen.
Gerechtigkeit statt Militarisierung
Eine Absage erteilte Schlagnitweit allen Tendenzen in Richtung militärischer Abschreckungspolitik und Rüstungswettlauf. Der aktuelle europaweit zu vernehmende Ruf nach einer "Wiederbewaffnung" bzw. "Aufrüstung" der europäischen Armeen dürfe nicht zu einer (Re-)Militarisierung der Außenpolitik führen. Auch wenn das christliche Grundprinzip der gewaltfreien Konfliktlösung in der unmittelbaren Kriegssituation nicht uneingeschränkt gilt, als Orientierung für eine nachhaltige Friedens- und Sicherheitspolitik diene es allemal. "Eine christlich inspirierte Friedenspolitik zielt deshalb - zumindest langfristig - nicht auf militärische Abschreckung oder Überlegenheit, sondern auf in Recht und Gerechtigkeit gründende Beziehungen zwischen den Staaten."
Quelle: kathpress