Forscherin: Kirchen in Flucht-Debatte als "Stachel im Fleisch"
Die Kirchen können in Debatten rund um Flucht und Vertreibung nach den Worten der Wiener Migrationsforscherin Judith Kohlenberger der "Stachel im Fleisch" sein, "eine lästige, aber wichtige Stimme". Im Gegensatz zur Wissenschaft argumentierten die Kirchen stärker mit christlichen Werten wie Barmherzigkeit und Nächstenliebe, sagte Kohlenberger im Interview der deutschen Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). "Das ist legitim, und im Kern kommen die unterschiedlichen Akteure - Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Kirchen - zu einem ähnlichen Schluss: nämlich dem, dass sich der Globale Norden in einer Welt wie dieser nicht mehr länger jeglicher Verantwortung entziehen kann."
Aus ihrer Sicht handle es sich indes "nicht vorrangig um eine humanitäre oder eine Werte-Diskussion", betonte die Forscherin, deren neues Buch "Das Fluchtparadox" am Montag erschien. "Es muss vielmehr eine rechtsbasierte Diskussion sein, denn es geht um verbriefte Rechte, beginnend mit dem Völkerrecht bis zu Grundlagendokumenten, die vor Jahrzehnten auf europäischem Boden erstritten wurden: die Genfer Flüchtlingskonvention oder die Europäische Menschenrechtscharta." Die europäischen Werte, über die vielfach debattiert werde, seien "längst in Recht gegossen und müssen national umgesetzt werden".
Zwar sei es wichtig, sich die Einzelschicksale von Betroffenen vor Augen zu führen. "Es sollten aber nicht Einzelschicksale gegeneinander aufgewogen werden", mahnte Kohlenberger. Es brauche vielmehr eine systemische Auseinandersetzung mit dem Thema. "Im Lauf der Geschichte hat sich immer wieder gezeigt, dass der Abbau von Rechten marginalisierter Gruppen oft das Einfallstor ist, um auch die Rechte anderer Gruppen zu beschneiden. Allein schon aus diesem Grund sollte man wachsam bleiben."
Im Hinblick auf die Corona-Pandemie sagte die Autorin, die europäischen Aufnahmeländer hätten in dieser Krise erkennen können, "dass ein wesentlicher Anteil ihrer sogenannten Systemerhalter Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund sind". Dies betreffe nicht nur den Niedriglohnsektor, sondern auch den mittleren und hochqualifizierten Bereich. "Dieses Faktum hat man allerdings kaum gehört", kritisierte Kohlenberger.
Quelle: kathpress