ORF-Experte: Religion wird im Blick auf Nahen Osten überbewertet
Die Bedeutung der Religion für die Gesellschaften im Nahen Osten wird nach Ansicht des ORF-Nahost-Korrespondenten Karim El-Gawhary überbewertet. "Ich glaube, der Nahe Osten wird in Europa viel zu sehr durch die religiöse Brille gesehen. Als würden die Menschen nur gemäß ihrer Religionszugehörigkeit etwa auf die wirtschaftliche Krise reagieren", so der Journalist im Interview mit dem "Tiroler Sonntag" (aktuelle Ausgabe). Eher sei die Wirtschaftskrise ein einigender Faktor. "Alle haben dieselben Probleme. Allen gemeinsam ist der tägliche Kampf ums Überleben. Da spielt das Thema Religion keine Rolle", so El-Gawhary.
Menschen unter 30 Jahren machten in der arabischen Welt 60 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Aus Studien gehe hervor, dass rund 70 Prozent der Meinung seien, dass Religion eine zu große Rolle in der Gesellschaft spielt. Und 80 Prozent meinten, dass die Institutionen ihrer Glaubensgemeinschaft reformiert werden müssten.
Auf die Christen in der Region angesprochen, sagte El-Gawhary: "Ganz egal, wohin man schaut - Ägypten, Libanon, Israel, Palästina oder Irak: Christen sind ein integraler Bestandteil dieser Gesellschaften. In Ägypten leben zum Beispiel mehr Christen, als Österreich Einwohner hat." Das sei keine kleine Minderheit. Und die Christen hätten auch wie die Muslime die gleichen Probleme, ihr Leben zu bewältigen. Fazit: "Das, was sie eint, ist viel mehr als das, was sie voneinander trennt."
El-Gawhary berichtete im Interview auch über die verheerenden Auswirkungen des Ukraine-Konflikts auf den Nahen Osten und auf Ägypten im Besonderen. Und er wies die Auffassung zurück, dass dies alles den Westen nichts angehe. Er warnte vor massiven Folgen der Not im Nahen Osten auch für den Westen.
"Menschen leben von der Hand in den Mund"
El-Gawhary: "Ich glaube, man kann sich in Österreich gar nicht wirklich vorstellen, wie hart die Auswirkungen auf die Bevölkerung sind, wenn die Lebensmittelpreise so steigen, wie sie das im Augenblick tun. In einem Land, in dem ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. Das heißt, den Menschen stehen pro Tag weniger als zwei Euro für den Lebensunterhalt zur Verfügung." Ein großer Teil der Bevölkerung stehe schon jetzt mit dem Rücken zur Wand: "Da ist nicht mehr viel Luft, denn da ist keine Reserve, da ist nichts Erspartes. Die Menschen leben wirklich von der Hand in den Mund."
Die Nahrungsmittelkrise werde in Ländern wie Ägypten ein großes Thema werden; wie auch im Libanon und Syrien, wo bereits rund 80 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben. Hungerrevolten seien also keine Utopie, sondern eine realistische Möglichkeit in naher Zukunft, warnte El-Gawhary: "Jemand hat mir vor ein paar Tagen erzählt: Wenn du im Libanon dein Auto volltankst, kostet das rund 80 Prozent des durchschnittlichen Einkommens. Vielleicht machen solche Beispiele deutlich, wie katastrophal die wirtschaftliche Situation in vielen arabischen Ländern inzwischen geworden ist."
Und diese Probleme seien nicht weit weg von Europa: "Das, was in der arabischen Welt passiert, geschieht in unmittelbarer Nachbarschaft. Alles, was dort passiert, hat daher auch unmittelbare Auswirkungen auf unser Leben in Europa", so El-Gawhary. Er sprach von einer "geografische Schicksalsgemeinschaft" und ergänzte: "Wenn Sie hier ein Auto auftanken, woher kommt das Benzin? Wenn es dort Kriege und Krisen gibt, wohin flüchten die Menschen? Wenn sich in der arabischen Welt militante Gruppen bilden, wo entsteht ein Sicherheitsproblem? Natürlich auch in Europa."
Freilich würden die Beziehungen auch in die andere Richtung laufen: "Woher kommen die Waffen, die im Nahen Osten eingesetzt werden? Natürlich auch aus Europa." Europa und der Nahe Osten seien "viel mehr miteinander verlinkt, als uns das oft bewusst ist. Die Vorstellung, wir könnten uns von dieser Region abschotten, ist vollkommen unrealistisch."
Dauerkonflikt Israel-Palästina
Auf Israel und Palästina angesprochen, meinte der Nahost-Experte, dass der derzeitige Status quo auf Dauer nicht zum Frieden führen werde. Nachsatz: "Wir werden immer wieder Gewalt erleben." Das Leben in den besetzten Gebieten sei für die Palästinenser unerträglich. Sie würden sich mit der Situation, so wie sie jetzt ist, nie zufrieden geben, so El-Gawhary: "Man darf eines nicht vergessen: Eine Besatzung macht beide Seiten kaputt. Die Besetzten, weil ihr Leben ruiniert ist, aber auch die Besetzer, weil es auch ihre Köpfe zerstört."
Eine Zwei-Staaten-Lösung erscheint für den Journalisten immer unwahrscheinlicher, "weil es keine Verhandlungsmasse gibt: nämlich über das Gebiet des palästinensischen Staates." Eine andere Möglichkeit wäre eine Ein-Staaten-Lösung: Ein Staat, in dem Palästinenser und Israelis gleichberechtigt miteinander leben. Das wäre allerdings das Ende eines jüdischen Nationalstaates und ein Modell, in dem ethnische Herkunft und Religion für die Zugehörigkeit zum Staat keine Rolle spielen. Er glaube, so El-Gawhary, dass diese dritte Möglichkeit an Bedeutung gewinnen werde.
Eine Lösung des Konflikts könne letztlich wohl nur von den Stärkeren, also von den Israelis, ausgehen. Allerdings: "So wie die israelische Gesellschaft aktuell beschaffen ist, sehe ich im Moment wenig Aussichten auf einen wirklichen Frieden."
Quelle: kathpress