
Religionssoziologe Halik: Kirche schmilzt, Spiritualität bleibt
Die heute schwindende Kirchenbindung mit den schmelzenden Gletschern zu vergleichen, ist für den renommierten Prager Priester und Religionssoziologen Tomas Halik eine Metapher, die in vielerlei Hinsicht passt. Das soziokulturelle Klima in Europa habe sich verändert "und die Art des Christentums, die einem großen, kalten, unbeweglichen Eisberg glich, schmilzt rasch", sagte Halik im Interview der St. Pöltner Kirchenzeitung "Kirche bunt" (Ausgabe 23. Oktober). Die wichtigsten Strukturen des Christentums seien jedoch nicht die äußeren institutionellen Formen, die jetzt in der Krise sind, "sondern die tiefere Dimension des Glaubens, die Spiritualität". Diese sei durch ihre Verankerung in den Tiefen des persönlichen und kollektiven Unbewussten wesentlich stabiler.
Christlicher Glaube zeigt sich nach den Worten des Theologen in Ritualen und Institutionen. "Tiefer liegt die Spiritualität - ein lebendiger Glaube, der das innere Leben der Menschen und ihre Beziehungen umfasst." Die gegenwärtige Krise mit der Erschütterung und Auflösung äußerer kirchlicher Strukturen könnte helfen, "die tiefen Strukturen des Christentums zu entdecken, und durch ihre Wiederbelebung kann es zu einer Erneuerung kommen - und nicht nur zu einer Erneuerung der Kirche", wie Halik festhielt.
Der Beobachtung, dass der Glaube an etwas Absolutes oder auch nur allgemein Verbindliches vielen heute immer schwerer falle, hielt Halik entgegen: "Für Jesus war nur die Liebe absolut." Bei der Transzendenz im Christentum gehe es letztlich um Liebe: "um Überwindung des persönlichen und gruppenbezogenen (und kirchlichen) Egoismus, Selbstbezogenheit". Gott sei "das, was in der Liebe heilig ist" - das zeige sich in Beziehungen, nicht in dogmatischen Formulierungen.
Die Frage, was die Identität des Christentums ausmacht, muss nach den Worten des Religionssoziologen immer wieder neu gestellt werden: "Es ist nicht irgendein unveränderlicher Schatz, sondern das Wehen des Geistes Gottes." Freilich dürften Reformbewegungen auch nicht auf Forderungen reduziert werden wie Abschaffung des Pflichtzölibats oder Frauenordination. "Diese Themen dürfen nicht tabuisiert, aber auch nicht überbewertet werden", sagte Halik: "Sie allein werden die Kirche nicht retten." Ohne Wiederbelebung der spirituellen und existenziellen Dimension des Christentums blieben alle Versuche einer institutionellen Reform nutzlos.
Die großen Visionen des Papstes - Halik nannte hier die Kirche als "Feldlazarett" und als gemeinsamer Weg - müssten tiefer durchdacht und kreativ umgesetzt werden. Franziskus habe zu Recht gesagt, dass der von ihm initiierte synodale Prozess der Weltkirche offen bleiben muss. Halik: "Wir müssen wie Abraham sein, der sich mit dem Mut des Glaubens auf eine Reise begab, ohne zu wissen, wohin er ging."
Gefahr eines "Katholizismus ohne Christentum"
Über die Situation des Christentums in seiner Heimat sagte der Priester, in weiten Teilen der Tschechischen Republik sei man seit mehreren Generationen an Entkirchlichung gewöhnt. Nach dem Ende der "harten Säkularisierung" während des KP-Regimes und einer kurzen Phase des Aufschwungs rund um den Fall des Kommunismus sei es in Tschechien wie in den meisten westlichen Ländern zu einer "weichen Säkularisierung" gekommen.
"Dort, wo die Kirchen auf diese Situation nicht vorbereitet waren und sich auf die Trägheit der Tradition verlassen haben, vollzieht sich der Prozess umso schneller und gründlicher", wies Halik hin. Die derzeit "schnellste und gründlichste Säkularisierung" sei in Polen feststellbar. Dort werde das Christentums - wie in Ungarn und bei den amerikanischen Republikanern - als "politische Ideologie" eingesetzt. Dies führe zu einem gefährlichen "Katholizismus ohne Christentum", warnte der Theologe.
Anlass für das Interview von "Kirche bunt" war das Erscheinen von Tomas Haliks neuestem Buch "Der Nachmittag des Christentums" (Herder 2022). Darin analysiert er die aktuelle Lage des Christentums und der Kirche und zeigt Möglichkeiten auf, "zu einem reiferen Christentum zu gelangen".
Quelle: kathpress