Sozialethiker: Vertrauensverlust in Kirche führt auch zu Glaubensverlust
Der grassierende Vertrauensverlust, dem die etablierten Kirchen und Religionsgesellschaften ausgesetzt sind, wird auch mit einem Rückgang an gelebter Religiosität und Glauben einhergehen. Davon zeigte sich der Wiener Sozial- und Medienethiker, Prof. Alexander Filipovic, bei einer Diskussion am Dienstagabend im ORF-Fernsehen überzeugt. "Wenn es keine Strukturen und Orte der Plausibilisierung des Glaubens mehr gibt, wenn die Glaubenspraxis weiter abnimmt, dann schwindet irgendwann auch der Gottesglaube." Es sei nicht unwahrscheinlich, dass - bei bleibend geringen Vertrauenswerten und einem Rückgang an Glaubenspraxis - in 10 bis 15 Jahren "nur noch ein klitzekleiner Teil der Bevölkerung an Gott glauben wird".
Filipovic äußerte sich in der ORF-Sendung "Philosophisches Forum". Thema des Diskussionsformates war das schwindende Vertrauen in Politik, Wissenschaft und Medien und mögliche Auswege aus der damit einhergehenden Krise. Es diskutierten dabei neben Filipovic der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann, der Genetiker Markus Hengstschläger, die Wiener Philosophin Lisz Hirn, die Schweizer Psychoanalytikerin Jeannette Fischer und der in der Schweiz lehrende Philosoph Martin Hartmann.
Filipovic votierte in der Diskussion dafür, anstelle des Misstrauensbegriffs den Begriff der Skepsis stark zu machen: Während Misstrauen destruktiv sei und zu Entsolidarisierungen führe, könne eine gesunde Skepsis "wahrheitsfördernd" sein. Der christliche Glaube fordere im Übrigen kein Vertrauen des Menschen in Gott ein, sondern - im Gegenteil - stelle einen Vertrauensvorschuss Gottes an den Menschen dar: "Indem Gott sagt 'Ich bin da', setzt er den Menschen frei und lässt ihn als freies Wesen handeln."
Insgesamt stelle Vertrauen eine gleichermaßen notwendige wie hochkomplexe Voraussetzung für das Funktionieren von modernen Gesellschaften dar, so Filipovic weiter. Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen lasse sich dabei nicht einfach herstellen, sondern entstehe durch Bildung und Kommunikation.
Der Wiener Philosoph Liessmann griff den Vorschlag Filipovics auf, von Skepsis zu sprechen - diese jedoch gebe es gerade im österreichischen Mediendiskurs nicht, "denn Skepsis bedeutet ja auch, sich eines Urteils zunächst einmal zu enthalten und sich zu informieren". Der Vertrauensverlust in die Kirchen geht laut Liessmann einher mit einer enttäuschten Erwartungshaltung: "Wenn Erwartungen enttäuscht werden, stellt sich Misstrauen ein." Die Kirchen würden diesen Erwartungshaltungen auf vielerlei Ebenen nicht mehr gerecht, konstatierte der Philosoph.
Die Philosophin Lisz Hirn wies darauf hin, dass das Problem des Vertrauensverlustes dann ein die Gesellschaft gefährdendes Problem werde, wenn der Verlust nicht mehr nur einzelne Menschen bzw. Politiker betreffe, sondern "das System" an sich. Während Politiker darauf mit einer größeren Bescheidenheit reagieren könnten, sei die Frage offen, wie Institutionen neues Vertrauen schaffen könnten - vertrauensfördernd wäre etwa ein stärkerer Blick auf lokale politische Bewegungen, die stärker auf Partizipation setzen. Wichtig wäre zudem, dass Menschen auch ein "gesundes Misstrauen ihren eigenen Einstellungen und Urteilen gegenüber" neu lernen.
Als "besorgniserregend" bezeichnete der Genetiker Markus Hengstschläger den Verlust an Vertrauen in die Wissenschaft. Genossen Wissenschaftler zu Beginn der Corona-Pandemie noch ein hohes Ansehen und Vertrauen, so sei dies inzwischen weitgehend vergangen. Dem müssten die Wissenschaften durch größere Transparenz, aber auch durch das Einräumen der eigenen Fehlbarkeit begegnen.
Die Psychoanalytikerin Jeanette Fischer wies darauf hin, dass Vertrauen sich nur einstelle als "gemeinsamer Weg". Daher sei ein erster Schritt zu einer Stärkung des Vertrauens die Stärkung des Selbstwertgefühls und Selbstvertrauens - dann erst könne man sich auf einen solchen Weg einlassen, um neue Formen des Vertrauens zu bilden.
Ähnlich auch die Einschätzung des Philosophen Martin Hartmann, der Vertrauen als eine "zu lebende Praxis" bezeichnete. Vertrauen entstehe durch positive Erfahrungen untereinander und auch mit Institutionen. Daher sei es wichtig, Orte und Rahmenbedingungen zu verbessern, an denen solche positiven Erfahrungen möglich werden und sich "Vertrauenswürdigkeit" zeigen könne.
Quelle: kathpress