Glettler: Buntheit der Gesellschaft ist Chance für die Kirche
Die Buntheit der Gesellschaft ist auch eine "Chance für die Kirche - und gleichzeitig eine Zerreißprobe, die aber letztlich nicht in einem Zerwürfnis enden muss". Diese Diagnose hat der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler mit Blick auf die zuletzt hohen Kirchenaustrittszahlen sowie auf die bei der Prager Europa-Synode zutage getretenen Meinungsunterschiede bezüglich des zukünftigen Kirchenkurses gestellt. Er sei "überzeugt, dass wir gerade jetzt Konsens- und Dissensfähigkeit in der Kirche brauchen", sagte Glettler im Interview mit der Tageszeitung "Der Standard" (Freitag). "Vielleicht träumen wir noch viel zu sehr von einer uniformen Kirche."
Neben der aktuellen Situation der katholischen Kirche kamen in dem Interview auch aktuelle politische Themen zur Sprache. Der Bischof plädierte für Visa-Erleichterungen für türkische oder syrische Erdbebenopfer, die die regierende ÖVP zuletzt verweigerte. Tausende könnten nicht in ihre Häuser zurückkehren und litten unter der Kälte, umschrieb Glettler die katastrophale Situation in den Krisengebieten. "Ich meine, wir sollten ein vernünftiges Kontingent der am schwersten Betroffenen aufnehmen, zumindest für eine bestimmte Zeit." Die auch vom österreichischen Bundesheer und anderen Einsatzkräften geleistete "Hilfe vor Ort" dürfe dabei "nicht zur Ausrede werden".
Angesprochen auf FPÖ-Politiker, die jüngste finanzielle Unterstützung für Erdbebenopfer hinterfragten und Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund brüskierten, meinte Glettler: "Es tut sehr weh, wenn humanitäre Herausforderungen in politisches Kleingeld für innenpolitische Profilierungen umgemünzt werden." Mit dem Elend von Menschen Parteipolitik zu betreiben, sei "schäbig". Die Kirche sei aber auch nicht "die moralische Oberlehrerin", wies der Bischof hin. Als Teil der Zivilgesellschaft und verpflichtet durch den Glauben, setze sie sich für die Schwächsten ein - etwa für Geflüchtete und Menschen in ihren verwundbarsten Lebensphasen.
"Viel Vertrauen in Kirche weggebrochen"
Zu den Kirchenaustritten, die 2022 mit mehr als 90.000 Menschen enorm anstiegen, sagte Glettler: "Diese Entwicklung lässt mich nicht kalt" und jeder einzelne Austritt schmerze. Er wolle jedoch aus den Austritten "kein übertriebenes Drama" machen. Die Gründe dafür, der Kirche den Rücken zu kehren, seien vielfältig. Glettler verwies auf den gesamtgesellschaftlichen Trend, dass viele auf kritische Distanz zu Institutionen gingen. Eine Rolle spielten auch Irritationen durch Missbrauchsfälle in der Weltkirche oder die "heißen Eisen" der kirchlichen Reformdebatte. "Viel Vertrauen in die Kirche ist weggebrochen", bedauerte der Bischof. Es könne nur durch persönliche Begegnungen und echtes Interesse für die Menschen wieder aufgebaut werden. Und gerade jetzt in der Krisenzeit brauche es viele Angebote von Seelsorge. "Wir haben viele Hausaufgaben zu erledigen."
Zur durch die Corona-Pandemie verstärkte Distanz zur Kirche sagte Glettler: "Wir haben in einigen Momenten sicher zu panikartig reagiert. Aber wahrscheinlich als Gesellschaft insgesamt." Als Verantwortlicher der Diözese habe er die wesentlichen Maßnahmen mitgetragen, von denen es geheißen habe, damit sei alles in den Griff zu bekommen. Immer noch gebe es "große Systemwut" und "hohe Empörungsbereitschaft", die es nicht einfach machten, etwas vorzugeben. "Aber ja, die Kirche hat in manchen Bereichen sicherlich auch überreagiert."
"Frischwasser" Glaube aus "Brunnen" Kirche
Der Innsbrucker Bischof teilt - wie er sagte - den Befund des Wiener Religionssoziologen Paul Zulehner, wonach Glaube in einer Zeit religiöser Pluralität nicht mehr "schicksalhaft" sei. "Heute fällt Religion als soziales Framing, als bestimmende kulturelle Matrix weg." Jeder einzelne Mensch müsse wählen, sich entscheiden, "sich persönlich auf den Weg machen, um zu einer spirituellen Quelle zu kommen". Es gebe durchaus Nachfrage nach "frischer Nahrung und Quellwasser für Herz und Seele", meinte Glettler. Kirche sei jedoch bildlich gesprochen "oft nur der mäßig attraktive Brunnen mitten im Dorf, uralt und renovierungsbedürftig. Das Frischwasser aus dem Brunnen muss man erst entdecken."
Zum neuen Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung, demzufolge mehr als 90 Prozent der Befragten der Aussage zustimmen, dass man ohne Kirche noch Christ sein kann, erklärte Glettler: "Ich will das Christsein niemandem absprechen. Der Geist Gottes wirkt ungeniert, auch weit außerhalb kirchlicher Zugehörigkeitsgrenzen." Wer jedoch entdecke, "dass Gott ein leidenschaftliches Herz für alle Menschen hat", werde wohl auch Gemeinschaft mitaufbauen wollen. "Aber wer weiß, vielleicht muss die Kirche ja noch weiter schrumpfen, um diese Authentizität wieder zu erreichen", so der Bischof.
Quelle: kathpress