Fußball-Experte Gremsl: Erwartung noch größer als 2016
Die Erwartungshaltung für die am Freitag beginnenden Fußballeuropameisterschaft ist aus heimischer Sicht noch größer als 2016, als Österreich die Qualifikation mit Bravour meisterte. Das hat der katholische Theologe und Professor für Sozialethik an der Universität Graz, Thomas Gremsl, im Kathpress-Interview zur Euro 2024 erklärt. Zur von vielen als schwierig eingestuften Vorrundengruppe mit den Top-Nationen Frankreich und die Niederlande sowie Polen meinte der ausgewiesene Fußball-Experte, es sei auf dem grünen Rasen immer wieder erlebbar, "dass man angesichts starker Gegner auch selbst eine stärkere Performance an den Tag legt". Daher sei er hinsichtlich einer starken Leistung der österreichischen Nationalelf zuversichtlich.
Der Mannschaft von Teamchef Ralf Rangnick traut Gremsl - er ist auch Mitglied der Kommission für Schiedsrichterwesen und Referent in der Disziplinarkommission des Steirischen Fußballverbands - trotz schwieriger Gruppe den Einzug ins Achtel- und womöglich auch ins Viertelfinale zu. Als Favoriten auf den Turniersieg nannte er Frankreich, Kroatien und auch Deutschland: "Man darf den Heimvorteil und letztlich die Dynamik des Turniers nicht unterschätzen."
Laut dem Grazer Theologen lebt der Fußball von seinen Emotionen, von seiner Spannung und dem ungewissen Ausgang eines Spiels. Zum in Österreich häufigen Wechsel zwischen "himmelhoch jauchzend" und "zu Tode betrübt" meinte Gremsl: "Zu leben bedeutet sowohl mit Siegen als auch mit Niederlagen umgehen zu lernen - auch das könnten wir im Fußball lernen."
Den Fußball sieht der Theologe als einen "Schmelztiegel der Gesellschaft". Wo sonst würden heute noch - außer etwa beim gemeinsamen Gottesdienst - so viele Menschen aus unterschiedlichen sozialen Bereichen aufeinandertreffen, Seite an Seite stehen und gemeinsam feiern? Freilich sei der Fußball auch Anlass für kollektives Dampf-Ablassen und Verbalinjurien. "Deswegen ist es so wichtig, dass Fußballer:innen, Funktionär:innen vorbildhaft voranschreiten", so Gremsl. Ihm persönlich sei gerade verbale Gewalt und insbesondere im Kinder- und Jugendfußball "ein Dorn im Auge". Vorgaben von oben bräuchten auch ein entsprechendes Bewusstsein von unten.
Kommerzialisierung des Fußballs
Die Kommerzialisierung des Fußballs sieht Gremsl differenziert: Um Spitzenfußball zu ermöglichen und zu fördern, "bedarf es umfassender finanzieller Mittel und das darf per se nicht negativ gedeutet werden". Das Bosman-Urteil, das die Ausländerbeschränkungen im Spitzenfußball zu Fall brachte, sei nur ein kleiner Teil eines komplexen Systems finanzieller Aspekte im Fußball. Die Kräfterverschiebung in Richtung finanzstarker Clubs und Ligen habe einerseits zur Popularität des Fußballs beigetragen. Andererseits wollte der Experte festhalten: "Insgesamt fließt sicherlich zu viel Geld im Fußball, sowohl im Profi- als auch im Amateurbereich." Der Ethiker plädierte hier für eine "kritisch-konstruktive Debatte auf allen Ebenen" - von den Verantwortungsträgern bei Vereinen und Verbänden bis hin zu den Fans. Letztlich gehe es um das Spiel und nicht um das Geld.
Die jüngst zu beobachtende Abwanderung von Stars in Länder wie Saudi-Arabien, China oder die USA hat laut Gremsl verschiedene Ursachen: neben der Kommerzialisierung auch politische Interessen an "Sportswashing" und die zunehmende Popularität des Fußballs in diesen Ländern. Hinzu komme, dass sich viele Profis in einem Alter, in denen früher an fußballerischen Ruhestand gedacht wurde, heute noch spielerisch auf der Höhe seien. Namhafte Fußballer wie Messi, Cristiano Ronaldo oder Benzema könnten so nach einer Karriere in Europa noch von einem Wechsel nach Amerika oder Asien profitieren. "Womöglich etwas blauäugig, aber meines Erachtens dennoch wichtig", so Gremsl: "Der Fußball würde sicherlich davon profitieren, wenn Spieler:innen in erster Linie wegen der Identifikation mit einem Verein, mit seinen Werten oder aufgrund der anderen Spieler:innen im Team ihre Transferentscheidungen treffen würden und nicht mit wegen des Geldes."
Gegen "blinde Technophilie"
Als Schiedsrichter-Vertreter ist Gremsl mit immer mehr technologischen Innovationen wie dem VAR (Video Assistant Referee) konfrontiert, denen man sich "nicht per se verschließen" solle. Wohl aber stelle sich die Frage nach einer "sinn- und maßvollen Einbeziehung dieser Tools". Blinde Technophilie dürfe nicht zu einem überstürzten Technikeinsatz im Fußball führen. Beim VAR gebe es trotz Testphasen mit Optimierungen noch immer Probleme und Herausforderungen mit diesem System. "Ganz zentral ist für mich auch die Frage, wie sich solche Technologien auf den Fluss des Spiels und damit auf die Spieler, auf das Fußballerlebnis und damit besonders auf die Fans auswirken", sagte der Theologe. Problematisch sei auch ein weiteres Auseinanderdriften von Amateur- und Profibereich im Fußball. "Die, die es sich leisten können, profitieren - mehr oder weniger - von den Technologien, die anderen eben nicht."
Zugleich erteilte Gremsl einem Verklären der fußballerischen Vergangenheit eine Absage. Das "Cordoba-Team" der WM '78 mit Weltklassekickern wie Krankl, Pezzey, Prohaska bilde für viele Menschen Helden ihrer Kindheit. "Und es ist wichtig, solche Idole zu besitzen. Wichtig ist aber auch, dass sie den heute Spielenden nicht die Show stehlen", meinte Gremsl. Die Art und Weise, wie Fußball gespielt wird, sowie die Rahmenbedingungen hätten sich weiterentwickelt, was 1:1-Vergleiche mit Mannschaften der Vergangenheit erschwere. "Jetzt schlägt die Stunde des Teams rund um Teamchef Rangnick und dieses Team hat bereits eindrucksvolle sportliche Erfolge gefeiert", lobte Gremsl. "Wir sollten uns in der aktuellen Phase vor allem auf sie konzentrieren."
Quelle: kathpress