
Armenien-Expertin: Weltkulturerbe in Berg-Karabach in Gefahr
Das christlich-kulturelle Erbe in Berg-Karabach (Artsach) ist gefährdet, von Aserbaidschan ausgelöscht zu werden. Davor warnt die Salzburger Armenien-Expertin Jasmin Dum-Tragut in einem Interview in der Wiener Kirchenzeitung "Der Sonntag" (Donnerstag). Aktuell sei das Schicksal von mehr als 4.000 nun ungeschützten Kulturdenkmälern ungewiss, darunter etwa 300 Kirchen und Klöster, aber auch viele Friedhöfe. Das ganze Interview mit Dum-Tragut ist am Montag (22. Juli) um 17.30 Uhr in der Reihe "Sommergespräche" auf "radio klassik Stephansdom" zu hören.
Für die Armenien-Expertin, die das "Zentrum zur Erforschung des Christlichen Ostens" an der Universität Salzburg leitet, steht hinter den Entwicklungen eine Agenda der aserbaidschanischen Regierung, die Spuren der Armenier löschen und ihre eigene Geschichte neu schreiben will. Bereits zu Friedenszeiten wurden laut Dum-Tragut 28.000 armenische Kulturgüter zerstört, darunter Kirchen, Klöster und Kreuzsteine aus dem Mittelalter. "Was jetzt in Karabach passiert, wissen wir genau genommen nicht. Wir haben keinen Zutritt mehr", so die Armenien-Expertin. Die berühmte "Grüne Kirche" von Schuschi soll bereits zerstört sein, wie Satellitenbilder zeigen.
Armenien war laut Tradition seit dem Jahr 301 das erste christliche Land der Welt. Es gab sehr früh eine eigene Schrift und ein eigenes Kirchenoberhaupt, erklärt Dum-Tragut. "Diese frühchristliche Tradition ist nicht nur im eigentlichen Armenien zu sehen, sondern auch im Osten, etwa im Bergland von Artsach", so die Expertin. Berg-Karabach sei häufig Rückzugsgebiet für den armenischen Adel gewesen und habe eine wichtige kulturelle Bedeutung: "Ich sehe hier nicht nur einen besonderen Schatz des Christentums, sondern ein Weltkulturerbe."
Die Armenien-Expertin, die 2023 mit dem Stephanus-Sonderpreis der Frankfurter Stephanus-Stiftung ausgezeichnet wurde, forscht in den Dörfern Armeniens nahe der Grenze zu Aserbaidschan - "immer mit Blick auf die militärischen Stellungen des feindlichen Nachbarlandes", wie sie berichtet. In der Forschungsabteilung an der Akademie der Wissenschaften in Jerewan, die Dum-Tragut seit kurzem leitet, betreibt sie mit einem Team aus fünf Wissenschaftlern Feldforschung, etwa in Tawusch, wo aktuell die Grenze neu gezogen wird. Die Reste der Klöster und Kirchen werden vermessen und fotografiert. "Aber wir fragen auch in der Bevölkerung nach Riten und Geschichten, also nach dem immateriellen Kulturerbe", erklärt die Armenologin. Oft seien es Felsen, Quellen oder Kreuzsteine, wo die Menschen beten und eine Kerze entzünden.
Enklave Berg-Karabach
Am 19. September 2023 hatte Aserbaidschan die armenische Enklave Berg-Karabach (die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört) angegriffen. Schon nach einem Tag war der Krieg entschieden. Rund 300 armenische Soldaten kamen ums Leben, auch zivile Opfer waren zu beklagen. Dem Angriff war eine rund neun Monate dauernde Totalblockade Berg-Karabachs durch Aserbaidschan vorausgegangen. Mehr als 110.000 Armenier mussten im September 2023 über Nacht ihre Heimat verlassen.
Mit Ende 2023 hat Artsach offiziell aufgehört zu existieren. Schon nach dem Karabach-Krieg von 2020 waren zudem bis zu 30.000 Karabach-Armenier dauerhaft nach Armenien geflüchtet, sodass das kleine Land insgesamt mehr als 130.000 Vertriebene aufgenommen und versorgt hat bzw. immer noch versorgt und zu integrieren versucht.
Menschen hilflos, "aber nicht hoffnungslos"
Nach der Kapitulation der armenischen Region Berg-Karabach im vergangenen Herbst fühlen sich die Menschen hilflos, "aber nicht hoffnungslos", so Expertin Dum-Tragut. Noch immer herrsche Unsicherheit und Hilflosigkeit angesichts der Ereignisse. "Für die Armenier war es immer wichtig, ein unabhängiges Volk zu bleiben. Trotz allem, was sie in ihrer jahrtausendelangen Geschichte erlebt haben, ist immer eine Hoffnung geblieben", erklärt sie zur Stimmung unter den Betroffenen.
In der Geschichte des Landes hat auch der Völkermord an den Armeniern tiefe Spuren hinterlassen: Am 24. April 1915 hatten Einheiten der osmanischen Geheimpolizei in Istanbul Hunderte armenische Intellektuelle verhaftet und nach Anatolien deportiert, wo die meisten den Tod fanden. Dies war der Startschuss für den Völkermord an den Armeniern und die Massaker an weiteren Christen syrischer und griechischer Tradition. Die Schätzungen reichen bis zu 1,5 Millionen armenische Todesopfer sowie bis zu 500.000 Opfer unter Christen anderer Konfessionen.
Quelle: kathpress