
Sozialethiker: Moderner Tourismus hat neokolonialistische Auswüchse
Der Direktor der Katholischen Sozialakademie Österreichs (ksoe), Markus Schlagnitweit, plädiert für dringend notwendige Reformen im Tourismus-Bereich. In einem aktuellen Beitrag im ksoe-Blog (www.ksoe.at/blogbeitraege/) sieht er im modernen Massentourismus neokolonialistische Auswüchse. Er wolle freilich im Blick auf die Benützung des Begriffs "Neokolonialismus" nicht missverstanden werden, so Schlagnitweit: "Moderner Massen- bzw. Über-Tourismus verursacht in der Regel nicht unmittelbar dieselben Grausamkeiten und Menschenrechtsverletzungen historischer Kolonialmächte, welche den Angehörigen indigener Bevölkerungen entweder überhaupt das Menschsein absprachen oder ihnen zumindest nicht dieselben Grund- und Freiheitsrechte zubilligten wie den eigenen Bürger*innen."
Der Punkt sei vielmehr, "dass pure Kapital- bzw. Marktmacht den Tourist*innen selbst und/oder den touristischen Vermarktungsgesellschaften die Durchsetzung eigener (kurzfristiger) Interessen auf Kosten selbstbestimmter Lebens- und Entwicklungschancen, intakter Biosphären und sozialer Strukturen der dauerhaft in den Tourismusdestinationen lebenden Menschen gestatten".
Schlagnitweit verweist darauf, dass in den von Massen- oder gar Über-Tourismus besonders betroffenen Reisedestinationen dieser Welt langsam, aber stetig der Widerstand einheimischer Bevölkerungsgruppen gegen zunehmende Tourismus-bedingte Belastungen wachse. Diese seien auch ökologischer oder infrastruktureller Natur, aber nicht nur.
Bedrängte Anrainer
So sehr die Tourismuswirtschaft für manche Regionen eine kaum verzichtbare Arbeits- und Erwerbsquelle darstellt, so sehr bringe sie zumindest nicht unerhebliche Teile der einheimischen Bevölkerung in wirtschaftliche Bedrängnis, etwa durch die Verknappung von Wohnraum und dadurch überschießende Immobilienpreise, durch die Konzentration des Angebots von Gütern und Dienstleistungen auf den Bedarf zahlungskräftiger Reisender oder durch die Verdrängung nicht-touristischer Wirtschafts- bzw. Erwerbszweige aus der Region.
Wenn dann auch noch maßgebliche Gewinnanteile der Tourismusbetriebe gar nicht in der Region zur Verteilung kommen, sondern an internationale Tourismus-Konzerne und Kapitalgesellschaften gehen, könne tatsächlich von "neokolonialistischer Ausbeutung" gesprochen werden, betonte der ksoe-Direktor.
Zwar hätten Tourismus und Reisen an sich einen hohen individuellen, sozialen und kulturellen Wert, sofern es zu Begegnungen auf Augenhöhe komme. Es stelle sich allerdings die Frage, ob solche Begegnungen unter den Rahmenbedingungen des modernen Massentourismus überhaupt noch möglich und realistisch seien.
Rahmen vonnöten
Was jedenfalls für andere Märkte gilt, gelte ganz offensichtlich auch für den Tourismus-Markt: "Er regelt keineswegs alles optimal, indem er sich selbst überlassen bleibt, sondern braucht wirksame und Gemeinwohl-orientierte politische Rahmensetzungen." Die Grund-, Freiheits- und Schutzrechte sowie langfristigen Lebens- und Entwicklungsinteressen autochthoner Bevölkerungen und ihrer Lebensräume hätten höheres Gewicht als die individuellen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen und Werte, welche durch touristisches Reisen verfolgt werden.
Die seit einigen Jahren diskutierten und teils auch lokal umgesetzten Maßnahmen wie Besucher-Kontingente, Eintrittsgelder in Städte oder Verbote touristischer Wohnraumbewirtschaftung würden häufig nur an den Symptomen des Problems ansetzen und nicht an seiner Wurzel, bemängelt Schlagnitweit: "Letztlich ist an der grundlegenden Sinnfrage des Reisens anzusetzen und wären entsprechende kritische Bildungs- und Reflexionsprozesse zu initiieren, um alle am gegenwärtigen Tourismusbetrieb irgendwie Beteiligten zu erreichen und in ihre jeweilige Verantwortung zu rufen: die Reisenden selbst ebenso wie ihre Dienstleister, Tourismusbetriebe ebenso wie Investoren."
Quelle: kathpress