Zulehner fordert Kirchen zur politischen Einmischung auf
Die Religion hat an Relevanz und politischer Kraft verloren. Dabei seien Kirchen gerade in Zeiten von Kriegen, Klimanotstand, Migration und Robotisierung dazu aufgefordert, "sich bei der Meisterung dieser Challenges aus der Sicht des Evangeliums politisch einzumischen". So hat sich der Theologe und Religionsforscher Paul Zulehner über mögliche und verabsäumte Potenziale der Kirche im Interview mit dem Schweizer Nachrichtenportal "kath.ch" geäußert. Als Ursache der aktuellen Misere nannte der Pastoraltheologe den Glaubwürdigkeitsverlust des Christentums, als Resultat einer "toxischen Mischung von Gott und Gewalt".
"Gott wurde - wie auch heute in Russland oder im Kalifat - zur Rechtfertigung inhumaner Gewalt missbraucht", so Zulehner. Die Folgen seien etwa Gottvergessenheit, Gottesmisstrauen bis zu "atheisierende Kulturen". Als Beispiel nannte Zulehner Ostdeutschland, wo die Gottesleere der Menschen "erfolgreich mit rechtsradikalen Fantasien gefüllt wird".
Prinzipiell hätten Kirchen die Kraft "so etwas wie Sparringspartnerinnen für Sinnsuchende" oder "Hoffnungshebammen in einer angstgetriebenen Welt" zu sein, erklärte Zulehner. Sie böten etwa die Grundlage für universelle Solidarität, die "eine humane Migrationspolitik mit Augenmaß inspirieren könnte".
Kritisch äußerte sich der Priester zur kontinentalen Versammlung der europäischen Kirchen in Prag 2023. "Weltfremder geht es kaum", lautete sein Urteil. Denn während im Europaparlament zeitgleich Migrationspolitik, der Ukraine-Krieg oder der europäische "Grüne Deal" diskutiert wurden, habe die Kirchenversammlung ergebnislos die Segnung von gleichgeschlechtlich Liebenden, das Diakonat der Frau oder die Lebensform der Priester diskutiert.
Um wieder politische Kraft zu gewinnen, benötige die Kirche "überzeugte Christinnen und Christen, die in die Gemeinderäte, in die Kantonsparlamente, in das Bundeshaus, in den Europarat oder in die UNO gehen und dort das Evangelium in die konkrete Politik einspielen". In einer Zeit, in der die Religion in die "private Innerlichkeit" absinke, seien zudem neue Formen des Austausches gefragt. Etwa: Religions-, Ethik- und Sinnunterricht, eine stärkere mediale Präsenz der Kirchen im Internet und die Diakonie, "die glaubwürdigste Form des Dialogs", so Zulehner.
"Anwältinnen der Hoffnung"
In "Zeiten der Gotteskrise" und in einer "weltanschaulichen Blumenwiese" verwies Zulehner zudem auf das Potenzial der Kirchen zu "Anwältinnen der Hoffnung" zu werden. Die Kirchen könnten heute nicht mehr die Massen gewinnen, aber Persönlichkeiten, die sie in ihre kleine familiale Lebenswelt einbinden. Wenn es gelinge, diese Menschen für das Evangelium zu gewinnen und zu vernetzen, könnten die Kirchen zwar nicht an Quantität, aber an qualitativer Kraft gewinnen.
Quelle: kathpress