
Opferschutzanwältin: Kirche in Österreich traf "weise Entscheidung"
Die Nachfolgerin von Waltraud Klasnic als Leiterin der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft, Caroline List, sieht den kirchlichen Umgang mit Missbrauchsfällen in den eigenen Reihen "länderweise sehr unterschiedlich". In Italien etwa finde die Diskussion schlicht nicht statt, die Menschen seien dort ganz anders mit der Kirche verhaftet als hierzulande, sagte List in einem "Kurier"-Interview am Sonntag. In Deutschland arbeite man die Missbrauchsfälle in jeder Diözese einzeln auf. In Österreich hätten sich die Orden und die Amtskirche "auf eine gemeinsame Vorgehensweise geeinigt" - laut der Präsidentin des Straflandesgerichts Graz, List, "eine weise Entscheidung".
Die Unabhängige Opferschutzanwaltschaft wurde 2010 unter der Leitung von Waltraud Klasnic von der österreichischen Bischofskonferenz und der Ordenskonferenz eingesetzt. Eine anfangs achtköpfige Kommission entschied über bisher 3.492 Fälle von sexuellem oder psychischem Missbrauch durch Vertreter und Vertreterinnen der Kirche. In Summe wurden den Opfern 37,7 Mio. Euro zuerkannt, wobei die Kirchenleitung den Empfehlungen der Kommission folgte. Ab 1. Jänner 2026 übernimmt Caroline List - schon bisher Teil der Kommission - den Vorsitz.
In dem Interview erläuterte List den Unterschied zu ihrer sonstigen beruflichen Tätigkeit und der Arbeitsweise in der Opferschutzanwaltschaft: "Als Richterin darf ich kein Mitgefühl haben, es geht um Zeugen, Beweise - und im Zweifel gilt es, für den Angeklagten zu entscheiden. In der Opferkommission ist es umgekehrt: im Zweifel für das Opfer." Wenn die Fachleute eine Schilderung als glaubhaft erachten, erhalte der oder die Betroffene eine Hilfeleistung. Von den bisher behandelten 3.492 Fällen wurden 3.214 zugunsten der Betroffenen entschieden - ungeachtet der oftmals vorliegenden juristischen Verjährung.
Zölibat freizustellen wäre Option
Als neue hauptverantwortliche Opferschutzanwältin will List die Verfahrensordnung überarbeiten, um Abläufe zu verbessern. Sie möchte - wie sie sagte - weiter daran arbeiten, "innerhalb der Kirche das Bewusstsein für Sexualität und auch den Umgang mit Verstößen gegen Normen zu verbessern". Es gelte, so offen wie möglich mit diesen Themen umgehen, "es ist ein Lernprozess". Ein Ansatz wäre aus der Sicht der Juristin, den Zölibat für katholische Priester freizustellen. Wichtig wäre es, bei ihrer Weihe Enthaltsamkeit gelobende junge Männer auch gut auszubilden und zu begleiten.
Auf die Frage, ob der jüngste Missbrauchsskandal bei SOS-Kinderdorf bei ihr ein Déjà-vu auslöste, antwortete List: "Gemein haben diese Fälle, dass ein Weltbild und das Vertrauen in wichtige Instanzen zerstört wird." Bei der Kirche sei die besondere Implikation dazugekommen, dass Geistliche die Autoritätspersonen waren. "Wir hatten Fälle von Kindern, die ihren Eltern zu Hause gesagt haben: Der Pater betatscht mich. Und die Eltern haben ihnen eine Watsche gegeben und gesagt: 'Du lügst, so etwas macht ein Geistlicher nicht.'"
In jedem geschlossenen System könne Missbrauch passieren, so die Opferschutzanwältin, weil schwächere Menschen dort den stärkeren ausgeliefert seien. Auch die Familie sei so ein geschlossenes System. Bei größeren Institutionen komme hinzu, dass Einzelne wenig wahrgenommen würden.
Einstellung zu Kindern änderte sich
Die Einstellung zu Kindern hat sich nach den Worten Lists zum Positiven verändert: "Sie waren früher, in der Nachkriegszeit, gesellschaftlich weniger wert." Die Ohrfeige als Erziehungsmethode sei früher erlaubt gewesen. "In der Kommission haben wir das aber nie als Entschuldigungsgrund gesehen. Ausschlaggebend ist das Maß an Gewalt und auch die psychischen Schäden, die einem Menschen dabei zugefügt werden." Zugleich hielt die Richterin fest: "Man muss diese Dinge im historischen Kontext sehen." Früher sei z.B. Flüssigkeitsentzug Usus gewesen, wenn Kinder im Bett eingenässt haben. Es habe an Bewusstsein gefehlt, dass das etwas mit Trauma, Angst oder dem Alleinsein zu tun hat, also psychische Ursachen hat. Man habe die Kinder beschämt und bestraft - und ihnen als "Lösung des Problems" ab Mittag nichts mehr zu trinken gegeben, erinnerte List.
Ihre eigenen Kinder seien zwei und vier Jahre alt gewesen, als sie im Jahr 2000 am Straflandesgericht die Leitung der Abteilung für sexuellen Missbrauch übernahm, erzählte List. "Als Richterin lernt man, sich abzugrenzen, bei manchen Fällen war das ganz, ganz schwierig. Man fühlt viel stärker mit dem Kind mit, wenn man selber welche hat."
Quelle: Kathpress