Gedenkjahr 2018: Kirchen haben aus der Geschichte gelernt
Die Kirchen haben ihre Lektion aus einer oft unrühmlichen Geschichte seit dem Republikgründungsjahr 1918 gelernt und sind in der Gegenwart mit ihrer zunehmenden Polarisierung zu Hütern demokratischer Werte geworden: Das haben nicht nur die beiden Spitzenvertreter der katholischen und der evangelischen Kirche in Österreich, Kardinal Christoph Schönborn und der lutherische Bischof Michael Bünker am Freitagabend in der "Langen Nacht der Kirchen" verdeutlicht, auch der renommierte Zeithistoriker Oliver Rathkolb kam bei einer Diskussion in der Wiener Deutschordenskirche zu dieser Einschätzung. Moderiert wurde das von einem kurzen Streifzug Rathkolbs durch die österreichische Geschichte der vergangenen 100 Jahre eingeleitete Dreiergespräch von der Pastoraltheologin Regina Polak.
Schönborn und Bünker spannten in ökumenischer Eintracht einen durchaus kirchenkritischen Bogen von der unterschiedlich aufgenommenen Gründung der Ersten Republik über den katholisch dominierten Ständestaat und die von Illusionen bzw. Anpassung begleitete Machtergreifung der Nationalsozialisten bis hin zur vom Migrationsthema dominierten Gegenwart. Beide waren sich darin einig, dass nur eine stets wachgehaltene Gedenkkultur Bedrohungen der Demokratie durch Zwist, Feindbilder und schließlich Gewalt hintanzuhalten vermag.
Im christlichsozialen Dollfuß-Regime sei versucht worden, die kirchliche Lehre auf staatlicher Ebene umzusetzen - aber mit einem entscheidenden Fehler, wie der Wiener Erzbischof hinwies: Der Glaube müsse frei sein von Zwängen, auch vom politischen Bestreben, christliche Prinzipien gewaltsam durchzusetzen. Schönborn erinnerte daran, dass Jesus seine Jünger aufforderte, den Menschen die Frohbotschaft zu verkünden, aber niemals Zwang als legitimes Mittel dazu erachtete. Die Saat und auch das Unkraut sollten nach einem Gleichnis Jesu beide wachsen können, und das Zweite Vatikanische Konzil habe sich mit seiner Anerkennung der Religionsfreiheit dieser Sichtweise eines frei zu wählenden Glaubens angeschlossen.
Schon davor habe sich die katholische Kirche in Österreich im "Mariazeller Manifest" von 1952 zu einer "freien Kirche in einer freien Gesellschaft" bekannt und sich parteipolitische Zurückhaltung auferlegt. Diese "Lerngeschichte" nach der Jahrhunderte langen Bindung an die Habsburger-Monarchie und die kurze an die Christlichsozialen der Zwischenkriegszeit sei für ihn "faszinierend", wie der Kardinal sagte.
Im Blick auf die Gegenwart sagte Schönborn, Migration sei ein entscheidendes und zugleich herausforderndes Thema, die österreichische Gesellschaft werde in einer Generation anders aussehen als jetzt und auch "die Zukunft der Kirche wird bunt sein". Schon jetzt gebe es mehr als 30 anderssprachige Kirchengemeinden in Wien, ein Drittel der Wiener Katholiken habe Migrationshintergrund. Schönborn wörtlich: "Wenn eine Gemeinschaft tragfähig genug ist für eine solche Vielfalt, dann das Christentum." Denn nach dem Neuen Testament "gibt es nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus", zitierte der Kardinal aus dem Galaterbrief (Gal 3,28).
Bünker: Polarisierung höhlt Demokratie aus
Bischof Bünker nannte gegenwärtige politische Entwicklungen in Europa "extrem beunruhigend"; er ortete eine zunehmende, die Demokratie aushöhlende Polarisierung und die Tendenz, den politischen Gegner als Feind zu sehen. Zugleich finde er es geradezu ärgerlich, so Bünker, dass derzeit eine "große Werte-Beschwörung" in Europa zu beobachten sei und ständig von der "Gemeinschaft" die Rede sei - beides Begriffe, die besser zu den Kirchen passten. Es würde reichen, würde sich der Staat auf seine Kernaufgaben im Sinne von Luthers "Zwei-Reiche-Lehre" beschränken: nämlich für Frieden und geordnetes Zusammenleben sowie für ausreichende Versorgung der Bürger zu sorgen.
Auch Bünker bezeichnete christliche Grundsätze wie die im Galaterbrief ausgedrückte Würde aller Menschen, die Seligpereisungen der Bergpredigt oder das Gleichnis vom barmherzigen Samariter als unverzichtbare Beiträge für ein gedeihliches Miteinander, als "Schwarzbrot einer Kirche der Zukunft", wie der evangelische Bischof sagte.
Rathkolb: "Unglaublicher Lernprozess der Kirchen"
Für ihn als Zeithistoriker sei es hochspannend, dass eigentlich sehr "autoritäre Gebilde" wie die Kirchen sich in der gegenwärtig aggressiven, politisch aufgeheizten Stimmung als Wahrer der Demokratie erweisen. Er konzedierte beiden Kirchenführungen, einen "unglaublichen Lernprozess durchgemacht" zu haben und diese historische Lektion auch umzusetzen: indem, sie nämlich gegenwärtig durch ihre ruhig-besonnene und zugleich engagierte Haltung in der Migrationsfrage überzeugten.
Hier erweise es sich geradezu als Vorteil, historische Schuld gründlich aufgearbeitet und daraus Konsequenzen gezogen zu haben. "Da hinkt die Politik den Kirchen deutlich hinterher", befand Rathkolb.
Dass sich die Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg ungleich besser entwickelt habe als nach dem Ersten Weltkrieg, führte der Historiker auch auf einen Lernprozess zurück: Statt dem Revanchismus nach 1918 mit hohen Reparationszahlungen an die Siegermächte und fehlender wirtschaftlicher Kooperation habe es nach 1945 einen Marshall-Plan und eine solidarische ökonomische Entwicklung gegeben - etwas, von dem sich die USA zu seinem Bedauern wieder entfernten.
Neuer Blick auf den "Kanzler ohne Gnade"
Aufhorchen ließ Rathkolb mit einer differenzierten Betrachtung des als "Kanzler ohne Gnade" verschrienen Prälaten Ignaz Seipel: Diese christlichsoziale Politiker habe eine wichtige Rolle beim Übergang von der Monarchie zur Republik gespielt und auch positiv auf die österreichische Verfassung Hans Kelsens von 1920 eingewirkt. Nach Kriegsende habe sich Seipel in der "Reichspost" kritisch gegenüber der Monarchie und ihrem Militarismus und Bürokratismus geäußert und wertschätzend über die Demokratie - ein Haltung, die der Priester allerdings 1922/23 wieder revidierte und 1925 Sympathien für den italienischen Faschismus äußerte. Wie viele andere sei Seipel ein Spiegelbild der wechselhaften politischen Strömungen der Zwischenkriegszeit gewesen, so Rathkolbs Fazit.
Nach 1945 habe lange Zeit Kooperation die politische Kultur Österreichs geprägt - durch Politiker, die als Ex-Häftlinge den Erfahrungshintergrund der Lagerstraße im KZ Dachau hatten. Daraus sei eine Lehre auch für die Gegenwart zu ziehen, meinte der Historiker: Wer sich kritisch seiner Vergangenheit stellt, könne auch genug "Selbst-Bewusstsein" entwickeln, die Gegenwart und Zukunft zu bestehen.
Quelle: Kathpress