Kirchenrecht enthält schon Lösung für Missbrauchsproblem
Die derzeit im Vatikan beim Kinderschutzgipfel versammelten Bischöfe sollten das Kirchenrecht zum Thema machen, denn darin sei die Lösung der Missbrauch-Probleme grundgelegt: Das vertritt der deutsche Kirchenrechtler Markus Graulich, Untersekretär beim Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte, im Interview mit "Vatican News" (Donnerstag). Die eigentlichen Fragen des Treffens seien für ihn: "Wie gehen wir mit Missbrauch um auf einer rechtlichen Ebene? Wie wird die Verantwortung eines Bischofs klar geregelt und wie können wir dies auch bei der Behandlung dieser Fälle rechtlich nachvollziehen? Wie kann man ihn dafür zur Rechenschaft ziehen?", erläuterte der Salesianerpater.
Die bestehenden Vorschriften der Kirche zu Missbrauch seien "ausreichend und klar genug", sie müssten bloß angewendet werden, betonte Graulich. Dazu gehöre einerseits das Kirchenrecht, das Missbrauch von Minderjährigen als Straftatbestand bezeichne, sowie weitere universale und teilkirchliche Normen: Der Kirchenjurist nannte hier "Sacramentum sanctitatis tutela", ein von der Glaubenskongregation 2001 herausgegebenes und 2010 nochmal erneuertes Dokument. Sein Eindruck sei jedoch, dass viele Bischöfe "nicht genügend Kenntnis des Kirchenrechts" hätten oder sich anstelle dessen lieber auf eigene Erfahrungen verließen und deshalb nur "weiter so" machten.
Bischöfe sollten "das Kirchenrecht lesen und anwenden". Jeder Bischof sollte sich auch besonders um die Priester seiner Diözese bemühen, forderte Graulich. So sei es etwa wichtig, für Priester und pastorale Mitarbeiter Nähe und Begleitung zu signalisieren und ein offenes Ohr zu haben statt sie monatelang auf eine Gesprächschance warten zu lassen. Denn wenn bei Schwierigkeiten kein Austausch möglich sei mit demjenigen, der etwas ändern kann, "kann das auch dazu führen, dass ich mir andere Lösungen suche".
Heilsame Strafe
Das Kirchenrecht verfüge beispielsweise puncto Anzeigenpflicht bei Missbrauchsfällen, dass der Bischof zunächst eine Voruntersuchung ("investigatio preaevia") machen müsse, zitierte Graulich aus dem Codex Iuris Canonici. Dabei werde geklärt, ob an dem Vorwurf etwas "dran" und ob er überhaupt möglich sei - etwa, ob ein beschuldigter Priester zum geschilderten Moment auch tatsächlich vor Ort war. Es folge dann der kanonische Prozess, bei dem Hinweise gesammelt und an die Glaubenskongregation gesandt werden. Zugleich gibt es bei schweren Fällen, die gegen staatliches Recht verstoßen, auch eine Meldepflicht an die weltliche Justiz.
Das Bewusstsein sei unterentwickelt, dass auch das Strafrecht zur Kirche gehöre, so die Wahrnehmung des Ordensmannes. Gerechte Strafen seien jedoch "immer Teil des Heilungsprozesses": Das Abbüßen einer entsprechenden Strafe ermögliche es, "von vorn anzufangen", während andernfalls der Neuanfang verwehrt bleibe. Daher gelte: "Strafe hat auch etwas Heilsames."
Der im Vatikan tätige Kirchenrechtsexperte kam auch auf den in der Missbrauchskrise öfters in Frage gestellten Zölibat zu sprechen. Er sehe hier "keinen unmittelbaren Zusammenhang", komme doch Missbrauch in erster Linie innerfamiliär vor sowie auch in Kirchen ohne Zölibats-Verpflichtung oder Sportvereinen. Förderlich für die Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch sei jedoch die "Kultur des offenen Austausches über Sexualität", die in der Gesellschaft und auch Kirche heute ohnehin offener denn je sei; dieser Austausch solle auch die "zölibatäre Sexualität" behandeln, appellierte Graulich.
Problem besonders bei neuen Gemeinschaften
Bereits zuvor hatte sich Graulich in der "Tagespost" (14. Februar) zum Phänomen des "geistlichen Missbrauchs" geäußert. Diese Form des Missbrauchs war von Doris Wagner zuletzt in einem Buch thematisiert worden - mit einer "sehr differenzierten Sicht des Kirchenrechts", wie der kirchliche Rechtsexperte die frühere Ordensfrau mit eigener Missbrauchs-Vergangenheit lobte. Wagner habe erkannt, dass das Kirchenrecht in richtiger Anwendung die geistliche Freiheit der Menschen eigentlich schütze.
So sei das Phänomen des "geistlichen Missbrauchs" im Kirchenrecht bereits implizit erfasst: Graulich verwies hier auf die Rechte der Gläubigen wie etwa auf Gottesdienst-Feiern gemäß der Vorschriften der Kirche, auf die Freiheit des Folgens einer eigenen Form geistlichen Lebens gemäß der Kirchenlehre, auf den Schutz der Intimsphäre und des guten Rufes oder die strikte Trennung von "forum internum" und "forum externum". Auch die freie Wahl des Beichtvaters und die Verpflichtung zur Einhaltung "bestimmter Regeln der Klugheit" bei der Beichte seien in den Codizes enthalten.
Gerade in kirchlichen Bewegungen und neuen geistlichen Gemeinschaften würde dies jedoch nicht immer beachtet. Das mache sie tendenziell anfälliger als traditionelle Orden für geistigen Missbrauch - für den Graulich eine genaue Definition einforderte, um nicht alles damit zu bezeichnen und Seelsorge unmöglich zu machen. Problematisch sei hier häufig der Umstand, dass diesen Gemeinschaften der "gesunde Abstand zu den Gründergestalten und eine Einordnung des eigenen Charismas in die gesunde Tradition der Kirche" noch fehle, begründete der Untersekretär seine Wahrnehmung.
Quelle: kathpress