Theologe Bucher: Kapitalismuskritik der Kirchen heute "höchst relevant"
Die seit Jahrzehnten vorgebrachten Kritikpunkte der Kirchen am Kapitalismus und seinen "Auflösungseffekten traditioneller Bindungen, seinem inhärenten Egoismusstreben und seinen Verelendungsfolgen für jene, die er nicht braucht" bleiben auch heute "höchst relevant". Wie der Grazer Pastoraltheologe Rainer Bucher in einem Beitrag für die theologische Feuilleton-Website "feinschwarz.net" darlegt, erforderten gerade die sozialen Folgen des Kapitalismus das Engagement der Christen für individuelle Barmherzigkeit und soziale Gerechtigkeit. "Dieser Einsatz ist überlebensnotwendig", so der Autor des jüngst erschienenen Buches "Christentum im Kapitalismus".
Der Kapitalismus sei freilich nicht nur ein sich ausbreitendes ökonomisches System, "er schreibt sich auch tief in uns ein", gab Bucher zu bedenken. Wettbewerb, Verdinglichung, Quantifizierung, permanente Optimierung "und überhaupt das Leben im Kalkül" durchwirke alle Lebensbereiche wie Wissenschaft, Politik, Sport, auch Religion "und selbst unsere Liebesbeziehungen". Dennoch, so der Theologe: "Der Kapitalismus ist nicht göttlich. Er mag dominant und mächtig sein, allmächtig aber ist er nicht." Ausschau zu halten nach Strategien, "im Kapitalismus ihm nicht zu verfallen" sieht Bucher heute als eine der zentralen Aufgaben des Christentums.
Seit es den Kapitalismus gibt und besonders seit er in der europäischen Neuzeit immer dominanter wurde, sei gerade die katholische Kirche gegen ihn aufgetreten - abgesehen von der Zeit des Kalten Krieges nach dem Zweiten Weltkrieg, als es im Bündnis mit dem kapitalistischen "Westen" gegen den atheistischen Kommunismus ging, erinnerte Bucher. Seit aber der real existierende Kommunismus verschwand und spätestens seit ein offen kapitalismuskritischer Lateinamerikaner Papst wurde, sei die "traditionelle Frontstellung der katholischen Kirche gegen den Kapitalismus" wieder gegeben.
Soziale, kulturelle und ethische Einwände
Die Kritik basierte im Wesentlichen auf drei Aspekten, schrieb Bucher: Die Vorbehalte haben einen kulturellen, einen ethischen und einen sozialen Grund. Zu letzterem hielt der Theologe fest, der Kapitalismus habe in seiner Geschichte immer wieder Ungerechtigkeits- und Verelendungseffekte produziert und tue dies bis heute. Spätestens seit der Industrialisierung Europas im 19. Jahrhundert sei es zu Massenelend bei "gleichzeitigem exorbitantem Reichtumszuwachs einiger weniger" gekommen. Dem sei mit der Christlichen Soziallehre eine neue theologische Disziplin entgegengetreten, die sich nach dem II. Vatikanum zur "menschenrechts- und gerechtigkeitsorientierten Sozialethik mit deutlich kapitalismuskritischer Grundtendenz" entwickelt habe. Ihre Vertreter in der entstehenden Christdemokratie, in Kirchenführung und Theologie forderten etwa die Einhegung des kapitalistischen Egoismus durch Rahmenregelungen und Umverteilung des Volkseinkommens seitens des Staates, erklärte Bucher.
Zum kulturellen Bereich wies der Grazer Pastoraltheologe darauf hin, dass gerade die katholische Kirche sehr schnell bemerkt habe, dass im Kapitalismus nach und nach die alten vormodernen, religiös legitimierten ständischen Ordnungen erodierten und ihm wörtlich "nichts heilig" sei, "außer er sich selbst". Bucher gestand zugleich zu, dass von der Kirche verurteilte Entwicklungen "bisweilen auch als wirkliche Befreiung" gewirkt hätten: "Die Emanzipation der Frauen von männlicher Dominanz etwa ... wäre ohne die vom kapitalistischen Modernisierungsprozess getriebene Integration der Frauen in den Arbeits- wie den Konsummarkt ein reichlich wirkungsloses idealistisches Postulat geblieben."
Rechtfertigungsversuche für Egoismus
Die ethische Kritik am Kapitalismus seitens der christlichen Kirchen entzünde sich am persönlichen Egoismus, am individuellen Streben nach Reichtum und Erfolg als Triebfeder kapitalistischer Dynamik. Was in praktisch allen religiösen Ethiken zurückgedrängt und verurteilt worden sei - nämlich die Orientierung zuerst am eigenen, materiell definierten Vorteil - werde im Kapitalismus "zum Prinzip und zur Forderung an den Einzelnen", so Bucher. Mit "diffiziler Argumentation" sei diese Ausrichtung gerechtfertigt worden: etwa mit dem Hinweis auf positive Nebeneffekte durch die Schaffung von Arbeitsplätzen, auf die individuelle Wohltätigkeit vieler Reicher oder - als "radikalste Variante" - auf Erfolg als direkten Ausweis göttlicher Erwählung und Gnade. Dieser Erwählungsgedanke habe sich freilich weder im Katholizismus noch im lutherischen Protestantismus durchgesetzt, wohl aber in gewissen süd- und nordamerikanischen Freikirchen. Hinter diesen "Einpassungsversuchen des neuen kapitalistischen Egoismus in die alte altruistische religiöse Ethik" stecke immer der "Stachel der Rechtfertigung", schrieb Bucher: "Man spürt den Gegensatz von kapitalistischem Gewinnstreben und christlicher Ethik und erkennt an, dass man sich für das kapitalistische Streben nach Gewinn, Reichtum und Vorteilen rechtfertigen muss."
Rainer Buchers 224 Seiten umfassender Band "Christentum im Kapitalismus. Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt", ist im Echter-Verlag erschienen.
Quelle: Kathpress