Theologen: Angela Merkel als "Fremdprophetin" nützen
"Nichts muss so bleiben, wie es ist", und: "Was viele Menschen nicht für möglich hielten, wurde Realität": Diese Sätze aus der "Harvard-Rede" der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkels sollte auch als Anstoß für innerkirchliche Reformmaßnahmen genommen werden. Der Wunsch nach tiefgreifenden Veränderung habe im Zuge der Missbrauchskrise auch den "katholischen Mainstream" erreicht, dieser "begehrt auf", so der Innsbrucker Pastoraltheologe Christian Bauer und seine ehrenamtlich in der Kirche engagierte ehemalige Studienkollegin Maria Mesrian in einem pfingstlichen Beitrag für die theologische Feuilleton-Website feinschwarz.net. Merkel solle als "Fremdprophetin" genützt werden, so der Appell.
Die Tochter eines evangelischen Theologen hatte Ende Mai an der renommierten US-Universität über ihre Jugend im Überwachungsstaat DDR gesprochen, die durch den für alle überraschenden Fall der Berliner Mauer eine völlig andere Perspektive erlangte. Das sei auch heute angebracht, so Merkels Appell an ihr Publikum:
Überraschen wir uns damit, was möglich ist - überraschen wir uns damit, was wir können!
Dazu Bauer und Mesrian: "Wer hätte je gedacht, dass wir Angela Merkel einmal so toll finden würden?" Ihre Worte seien jedenfalls nicht nur mit Blick auf die aktuelle politische Weltlage, sondern auch für die gegenwärtige Kirchensituation von geradezu prophetischer Kraft.
Eine weitere "fremdprophetische" Stimme sehen die beiden Autoren in den vielen jungen Klimaaktivisten, die gegen die "Realitätsverweigerung" der älteren Generationen mit Plakaten wie "Die Dinosaurier dachten auch, sie hätten noch Zeit... " antworteten.
In dem "feinschwarz"-Artikel mit dem Titel "Kirchenreform JETZT!" erinnern sich Bauer und Mesrian an ihre Studienzeit in den 1990er-Jahren: "Kein Papst Franziskus war damals in Sicht, nur die longue durée eines im Sprung gehemmten, kirchenamtlich eingehegten und weitgehend zurückgenommenen konziliaren Aufbruchs." In dieser "winterlichen Kirchenzeit" habe die Generation Bauers und Mesrians mit einem "theologischen Einfrieren aller heißen Eisen" reagiert:
Frauenordination, Pflichtzölibat, Machtmissbrauch - alles kein Thema für uns. Eine Veränderung ist doch sowieso unrealistisch. Da verbrennt man sich nur die Finger und ruiniert sich die berufliche Perspektive.
Mit dem Pontifikat von Papst Franziskus sei "so etwas wie ein Hauch von katholischer Morgenluft spürbar". Rückenwind aus Rom sorge für ein völlig neues Kirchengefühl, Klerikalismus werde kritisiert, Synodalität sei im Aufwind, die Frage nach der Macht nicht mehr tabu, so die Beobachtung Bauers und Mesrians. Noch Josef Ratzinger habe "spiritualisierende Machtverschleierung" betrieben, wenn er auf eine Münsteraner Studierendenfrage geantwortet habe, in der Kirche gebe es "überhaupt keine (weltliche) Macht, sondern nur (geistliche) Vollmacht" oder wenn er am Tag seiner Wahl zum Papst meinte, er sei nur ein einfacher Arbeiter im Weinberg des Herrn.
Und mehr als alle wohlmeinenden Reformbemühungen von Papst Franziskus verändere die Missbrauchskrise heute vieles: "Selbst in bestem Sinne konservative Theologinnen und Theologen" würden inzwischen sagen, "dass es nun wirklich reiche und alles nicht mehr so weitergehen könne..." Entsprechende Äußerungen höre man bei Protesten kritischer Kirchenfrauen vor dem "Goldenen Dachl" in Innsbruck und auf der Kölner Domplatte, im Pfarrgemeinderat genauso wie von der frommen Großmutter, im Umfeld der Bischofskonferenz genauso wie im theologischen Fakultätsrat.
"Kirchenreform ist Gotteszeugnis"
Freilich gebe es nach wie vor Diskursverweigerer, erklären der Innsbrucker Professor für Pastoraltheologie und die fünffache Mutter und Mitarbeiterin in einer Kölner Pfarrgemeinde, die sich auch als Aktivistin der Protestbewegung "Maria 2.0" engagiert. Bauer und Mesrian meinen damit nicht nur die "kirchliche Alte Rechte", sondern auch "prinzipiell zugängliche und wohlmeinende" Amtsträger. Diese würden mit "altbekannten Beschwichtigungsformeln" reagieren wie etwa:
Viel wichtiger als Strukturfragen seien die Glaubensinhalte. Keine binnenkirchliche Nabelschau, alles müsse man jetzt an die Missionsfront werfen. Und überhaupt: bei den Evangelischen sei es ja auch nicht besser.
Darauf kann man laut Bauer und Mesrian eigentlich nur antworten: "Strukturfragen reflektieren Glaubensinhalte - oder sie sind nicht evangeliumsgemäß." Das größte pastorale Missionshindernis sei eine Kirche, deren äußere Gestalt permanent ein Zeugnis gegen das Evangelium darstellt, weil sie in ihrer alltäglichen "Körpersprache" der jesuanischen Frohbotschaft widerspreche. Kirchenkrise und Gotteskrise dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden, sind die beiden "feinschwarz"-Autoren überzeugt. "Denn: Kirchenreform ist Gotteszeugnis." (Info: www.feinschwarz.net)
Quelle: kathpress