"Die demokratische Wende im Osten ist gescheitert"
"Die demokratische Wende im Osten ist gescheitert." Diesen ernüchternden Befund stellt der Historiker und wissenschaftliche Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (DÖW), Gerhard Baumgartner, den osteuropäischen Staaten - insbesondere Ungarn - 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aus. "Alles, wofür wir uns in den 1980er und 1990er Jahren in Hinblick auf Osteuropa eingesetzt haben, liegt in Scherben", so Baumgartner im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst Österreich (epdÖ).
Der Parlamentarismus mache "mehr und mehr diktatorischen Regimen" Platz. Über das Ungarn Viktor Orbans sagt Baumgartner, der u.a. auch Vorstandsmitglied der Evangelischen Akademie ist und langjähriger Minderheiten-Redakteur im ORF war: "Inzwischen hat man den demokratischen Apparat in Ungarn so weit entstellt, dass nicht mehr von parlamentarischer Demokratie gesprochen werden kann." Die Kirchen hätten dem aktuell wenig entgegenzusetzen.
Kirchen haben Wende maßgeblich mitgetragen
Baumgartners Rückblick auf die Wende vor 30 Jahren fällt gespalten aus. Bereits im Mai 1989 hatte Ungarn mit dem Abbau des Grenzzauns zu Österreich begonnen, das symbolische Zerschneiden des Stacheldrahts durch die damaligen Außenminister Gyula Horn und Alois Mock im Juni gilt als ikonographischer Meilenstein des Umbruchs, ebenso das Paneuropäische Picknick am 19. August nahe Sopron. Diese Wende sei von den Kirchen und ihren Vertretern maßgeblich mitgetragen worden, so Baumgartner: "Sie hatten eine große moralische Autorität. Sehr viele ehemalige sozialistische Politiker Ungarns hatten ihre politische Glaubwürdigkeit weitgehend verloren." Die Lücke, die die Kirchen damit besetzten, hätte sich aber nach den ersten Wahlen im März 1990 wieder aufgetan. Bald seien auch sie in die Kritik geraten, als "nach und nach ruchbar wurde, dass es auch unter den kirchlichen Würdenträgern Mitarbeiter der Geheimdienste gegeben hat".
Von der Unterdrückung zur Zeit des Kommunismus hätten sich die Kirchen und Glaubensgemeinschaften in den 1990er Jahren "wahnsinnig gut erholt". So seien - auch mit der Unterstützung westeuropäischer Schwesterkirchen - zahlreiche kirchliche und kirchennahe Privatuniversitäten entstanden.
Eine weitere Beobachtung Baumgartners: Freikirchen, evangelikale Gemeinden und Religionsgemeinschaften wie die Mormonen oder Zeugen Jehovas würden bis heute einen starken Zulauf verzeichnen - eine Tendenz, die bereits in den 1980er Jahren einsetzte, als eine Liberalisierung der ungarischen Kulturpolitik mit Duldung Moskaus der Missionstätigkeit viele Freiheiten ließ. Hier hätten die staatlichen Autoritäten gewähren lassen, da die kleinen Kirchen politisch inaktiv blieben. Besonders starken Zulauf, so Baumgartner, bekämen diese Gruppierungen bis heute von der Roma-Minderheit.
Kein demokratischer Grundkonsens
Die Liberalisierung der 1980er sei es schließlich auch gewesen, die den Aufstieg Viktor Orbans - von 1998 bis 2002 und seit 2010 Ministerpräsident - ermöglicht habe. Baumgartner erinnerte an eine Veranstaltung in Budapest, auf der Orban, damals noch Sprecher einer Studentenorganisation, öffentlich gegen Russland agitierte:
Da haben alle die Luft angehalten und gesagt: 'Jetzt wird's brenzlig, jetzt passiert etwas.' Aber es ist nichts passiert. Niemand griff ein. Da war zu fühlen: Das ist ein tönerner Riese, die wollen keine Eskalation. Und in dieser Situation ist sehr viel möglich.
Die Chance auf einen breiten demokratischen Grundkonsens in der Bevölkerung sei allerdings bald verspielt worden, als nach den Wahlen im März 1990 keine Koalitionsregierung zwischen Liberalen und Konservativen zustande kam. Der nunmehr eingeschlagene nationalkonservative Kurs des ursprünglich liberalen Orban überrascht Baumgartner daher auch kaum:
Orban hat bald gesehen, dass er die Wahlen als Liberaler nicht gewinnen kann, aber sehr wohl als Klerikal-Konservativer. Da ist er sehr schnell umgeschwenkt.
Heute geht es Orban laut Baumgartner nicht mehr um Staatsbürger, sondern um völkische Identität: "Das ist das eigentlich Erschreckende."
Die Kirchen, die noch in den Wendejahren eine wichtige politische Rolle eingenommen hatten, vermisst der Historiker heute im politischen Diskurs:
Ich sehe wenig große Aufschreie in den ungarischen Kirchen gegen viele Auswüchse dieser nationalistischen, fremdenfeindlichen, antisemitischen und Anti-Zigeuner-Politik. Es gibt Ausnahmen, aber für das, was dort passiert, ist das nichts.
Quelle: kathpress