ORF-Doku bringt neue Erkenntnisse zum Brand des Stephansdoms
Eine aufwendig recherchierte und produzierte TV-Dokumentation wirft ein neues Licht auf die Ereignisse, die im April 1945 zur Zerstörung des Wiener Stephansdomes geführt haben: Wie Dombaumeister Wolfgang Zehetner in der am Ostermontag in ORF III ausgestrahlten Sendung "Brandakte Stephansdom - Rekonstruktion einer Katastrophe" darlegte, könne die bisherige Version "ad acta gelegt" werden, brandstiftende Plünderer in unmittelbarer Umgebung des Doms seien die Schuldigen gewesen. Näher liege, dass im Kampf um Wien in der letzten Weltkriegsphase einer oder beide der feindlichen Verbände - deutsche Wehrmacht und Rote Armee - verantwortlich sind, so Zehetner; "entweder als Kollateralschaden beim Kampf oder aber durch blanken Zerstörungswillen".
Die Auswertung privater Tagebücher und unveröffentlichter Zeitzeugenberichte, aber auch modernste Computeranimation lassen die bisher gängige Version der Brandursache hinterfragen, auch nach Einschätzung der für die ORF-Sendung befragten Historiker Manfried Rauchensteiner und Markus Reisner (Autor von "Die Schlacht um Wien 1945"). Der wahrscheinlichste Hergang laut dem 45-minütigem Dokumentarfilm: Genau zwischen den Fronten liegend, geriet der Stephansplatz im Herzen Wiens unter Beschuss von beiden Kriegsparteien; Granaten entzündeten die Häuserfront an der Westfassade des Doms, der Brand griff über ein altes Gerüst am Nordturm auf den hölzernen Dachstuhl über. Ein möglicher weiterer Beschuss führte zum Einbruch einer Stützmauer auf dem Gewölbe und damit zur Zerstörung des Kirchenschiffs.
Umstrittenes Symbol weiße Fahne
Dombaumeister Zehetner: "Wenn man die Quellenlage genau studiert, kann man nur zu einem Schluss kommen: Die Brandakte Stephansdom muss neu erzählt werden." Man habe aus heutiger Sicht den Eindruck, dass es die Gesellschaft nach dem Krieg gar nicht so genau wissen wollte. Nicht einmal eine feuerpolizeiliche Untersuchung habe es gegeben. Die Plünderer-Version, die sich schließlich durchsetzte, "tat niemandem weh", so Zehetner. Er erinnerte an den historisch belegten Befehl aus den Reihen der SS, den Dom unter Beschuss zu nehmen: 100 Granaten auf das Wiener Wahrzeichen sollten als Rache für die am Südturm gehisste weiße Flagge dienen - eine Order, der sich Wehrmachtshauptmann Gerhard Klinkicht widersetzte und damit sein Leben riskierte.
Die von Unbekannten gehisste weiße Fahne war für die einen ein Symbol der Kapitulation und der Befreiung von der NS-Herrschaft, für die bisherigen Machthaber freilich ein Symbol der Wehrkraftzersetzung.
Der Stephansdom war schon allein aufgrund seiner exponierten Lage in der umkämpften Innenstadt Wiens zwischen die Fronten geraten. Über ihn hinweg flogen Geschoße der Deutschen und der Russen - viel gefährlichere Waffen als je zuvor in der Geschichte, als der Dom zwei Türkenbelagerungen, Franzosenkriege, Feuersbrünste und auch den Ersten Weltkrieg überstand. Bomben trafen den Stephansplatz, die Häuserfront vom Haas-Haus bis zur Rotenturmstraße brannte.
Seit 1939 stand am Nordturm ein Holzgerüst für Renovierungsarbeiten, die kriegsbedingt unterbrochen waren. Dessen ausgetrocknetes Gebälk war für Zehetner ein möglicher Ausgangspunkt der Tragödie: Es fing in der Nacht von 11. auf 12. April Feuer, das über Funkenflug in das Dachinnere des Doms eindrang. Die dortigen imprägnierten Lärchenbalken hielten den Flammen zwar lange stand, doch letztlich wurde der imposante, kunsthistorisch bedeutsame Holzdachstuhl zur "Achillesferse des steinernen Doms", wie der Dombaumeister sagte.
Plünderer meist verzweifelte Hungrige
Zur bisherigen Plünderungsthese hieß es in der Doku, Vorfälle dieser Art seien in diesem Zeitraum zwar belegt, aber dass dabei versucht wurde, Spuren mittels Feuer zu verwischen, sei sonst nirgendwo vorgekommen. Laut dem Dombaumeister waren es überwiegend "verzweifelte, aber harmlose Menschen" auf der Suche nach Nahrung, die es sich zunutze machten, dass es in diesen Tagen keine sanktionierende Ordnungsmacht gab. Und kein Augenzeuge außer Domkurat Lothar Kodeischka (1905-1994), auf den diese These zurückgeht, habe Brandstifter beobachtet.
Der 1945 wochenlang im Dom ausharrende Kodeischka, dessen Erinnerungen in Tagebuchform erst 40 Jahre nach der Brandkatastrophe erschienen, gilt als einer von drei Kronzeugen für die damaligen Ereignisse. Die beiden anderen waren Leopold Meister, als Türmer von St. Stephan für Feuerwache zuständig, und Christl Guggenberger, Tochter des Wirtschaftsdirektors des Erzbischöflichen Palais und dort wohnhaft, die mit einer Handvoll anderer bei den Löscharbeiten im Dom mithalf. Dabei erwies sich als fatal, dass durch Bombentreffer die Wasserversorgung unterbrochen war und am Dachstuhl kaum Löschwasser zur Verfügung stand.
Wiederaufbau - "eine Ehrenpflicht aller!"
Der 12. April 1945 fügte dem Unheil des mehr als fünfjährigen Weltkriegsfurors in Wien einen weiteren, letzten Höhepunkt hinzu: Die Pummerin, die größte Glocke des Stephansdoms, stürzte als Folge des Dachbrandes in die Turmhalle herab und zerbrach; tags darauf durchschlug eine vermutlich nach einem Granateneinschuss einbrechende Stützmauer das Gewölbe des südlichen Seitenchors, das in den Dom eindringende Feuer zerstörte Chorgestühl und Chororgel, Kaiseroratorium und Lettnerkreuz. Der Stephansdom bot ein erbarmungswürdiges Bild sinnloser Zerstörung.
Zu den fassungslosen Betrachtern der Katastrophe gesellte sich laut Presseberichten ein Mann in ausgebeulten Hosen und mit abgeschabtem Hut, der so nebenbei bemerkte: "Na, wir werden ihn (den Dom) halt wieder aufbauen müssen." Es handelte sich um den damaligen Wiener Erzbischof Kardinal Theodor Innitzer. Nur wenige Wochen danach, am 15. Mai 1945, teilt er den Gläubigen seiner Diözese mit: "Unsere Kathedrale, den Stephansdom, wieder in seiner ursprünglichen Schönheit erstehen zu helfen, ist eine Herzenssache aller Katholiken, eine Ehrenpflicht aller!" Innitzers Appell sollte sich in den folgenden sieben Jahren als eine Tatsachenfeststellung erweisen.
Die TV-Dokumentation "Brandakte Stephansdom - Rekonstruktion einer Katastrophe" von Manfred Corrine und Wolfgang Niedermair (Buch und Regie) ist noch bis kommenden Sonntag in der ORF-TVThek zu sehen (https://tvthek.orf.at/profile/Themenmontag/13687392/Themenmontag-Brandakte-Stephansdom-Rekonstruktion-einer-Katastrophe/14048096)
Quelle: kathpress